Blindenführhund in ärztlichem Wartezimmer – und ich muss draußen bleiben?!

Blindenführhunde sind hochqualifizierte, ausgebildete Hunde, die ihrem auf sie angewiesenen Halter ermöglichen, im Alltag im wortwörtlichen Sinne den Weg zu finden.

Den Weg zum Gericht  – bis hin zum Bundesverfassungsgericht – hat nun folgender Fall gefunden:

Die Beschwerdeführerin, die einen Blindenführhund hält, war in Behandlung in einer Physiotherapiepraxis. Diese Praxis befindet sich im selben Gebäude wie die im Ausgangsverfahren beklagte Orthopädische Gemeinschaftspraxis. Die Physiotherapiepraxis ist zum einen ebenerdig durch die Räumlichkeiten der Orthopädischen Gemeinschaftspraxis zu erreichen und zum anderen durch den Hof über eine offene Stahlgittertreppe. Ein Schild weist beide Wege aus. In der Arztpraxis führt ein Weg durch das Wartezimmer zu einer Notausgangstür, auf der ein Schild mit der Beschriftung „Physiotherapie“ angebracht ist. Die Beschwerdeführerin hatte diesen Durchgang bereits mehrfach mit ihrer Blindenführhündin genutzt. In der Folge untersagten die Ärzte der Orthopädischen Gemeinschaftspraxis der Beschwerdeführerin, die Praxisräume mit ihrer Hündin zu betreten und forderten sie auf, den Weg über den Hof und die Treppe zu nehmen. Als die Beschwerdeführerin an einem anderen Tag erneut die Praxisräume durchqueren wollte, verweigerten sie ihr den Durchgang.

Die Instanzgerichte

Die Beschwerdeführerin beantragte vor dem Landgericht Berlin, die Ärzte der Gemeinschaftspraxis zur Duldung des Durch- und Zugangs zusammen mit der Hündin zu verurteilen. Sie trug vor, diese könne die Stahlgittertreppe nicht nutzen. Die Hündin scheue die Treppe, weil sie sich mit ihren Krallen im Gitter verfangen und verletzt habe.

Die Klage blieb erfolglos1, das Kammergericht Berlin wies auch die Berufung der Beschwerdeführerin, die inzwischen einen Rollstuhl benutzen musste, zurück2.

Das Bundesverfassungsgericht

Das Bundesverfassungsgericht hat der daraufhin erhobenen Verfassungsbeschwerde als „offensichtlich begründet“ stattgegeben – mit deutlichen Worten.

Der Beschluss des Kammergerichts Berlin verletzt nach Auffassung des Bundesverfasungsgerichts die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Bei der Auslegung der einschlägigen Vorschiften des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes hat das Kammergericht Berlin die Tragweite des besonderen Gleichheitsrechts und seine Ausstrahlungswirkung auf das bürgerliche Recht nicht hinreichend berücksichtigt und Bedeutung und Tragweite des Grundrechts verkannt. Die Entscheidung führt zu einer nicht gerechtfertigten Benachteiligung der Beschwerdeführerin wegen ihrer Behinderung.

Beurteilungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde sind die Grundrechte des Grundgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht prüft das innerstaatliche Recht und dessen Anwendung grundsätzlich jedenfalls dann am Maßstab der deutschen Grundrechte, wenn es im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegt, durch dieses aber nicht vollständig determiniert ist3.

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz dient der Umsetzung der Gleichbehandlungsrichtlinien der Europäischen Union, wobei hier insbesondere die Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29.06.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (sog. Anti-Rassismusrichtlinie4) und die Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (sog. Rahmenrichtlinie5) einschlägig sind. Lediglich die Anti-Rassismusrichtlinie sieht ein Verbot der Diskriminierung bei dem Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, vor (vgl. Art. 3 Abs. 1 Buchstabe h RL 2000/43/EG). Die Rahmenrichtlinie umfasst demgegenüber unter anderem das Merkmal der Behinderung, beschränkt sich aber auf das Verbot von Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf (vgl. Art. 1 und Art. 3 RL 2000/78/EG). Mit der Einbeziehung des Merkmals der Behinderung in das – nach dem Unionsrecht auf die Merkmale Rasse oder ethnische Herkunft beschränkte – zivilrechtliche Benachteiligungsverbot in § 19 AGG, den das Kammergericht hier zugrunde gelegt hat, ist der deutsche Gesetzgeber mithin über die unionsrechtlichen Vorgaben hinausgegangen und hat eine für die Betroffenen günstigere Regelung geschaffen6.

Entscheidungen der allgemein zuständigen Gerichte sind nicht schlechthin einer verfassungsgerichtlichen Prüfung zugänglich. Die Rüge der Beschwerdeführerin betrifft primär die Auslegung und Anwendung einfachen Rechts. Diese sind in erster Linie Aufgabe der Fachgerichte und können vom Bundesverfassungsgericht – abgesehen von Verstößen gegen das hier nicht gerügte Willkürverbot – nur darauf überprüft werden, ob sie Auslegungsfehler enthalten, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des betroffenen Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen. Das ist der Fall, wenn die Normauslegung die Tragweite des Grundrechts nicht hinreichend berücksichtigt oder im Ergebnis zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit führt7. In zivilrechtlichen Streitigkeiten haben die Grundrechte als objektive Grundsatznormen Ausstrahlungswirkung, die vor allem bei der Interpretation von Generalklauseln und anderen auslegungsfähigen und wertungsbedürftigen Normen zur Geltung zu bringen ist8. Kollidierende Grundrechtspositionen sind in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz so in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden3.

Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden; eine Schlechterstellung von Menschen mit Behinderungen ist nur zulässig, wenn dafür zwingende Gründe vorliegen9. Untersagt sind auf die Behinderung bezogene Ungleichbehandlungen, die für den behinderten Menschen zu einem Nachteil führen. Eine nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verbotene Benachteiligung liegt nicht nur bei Maßnahmen vor, die die Situation von Behinderten wegen der Behinderung verschlechtern. Eine Benachteiligung kann auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten gegeben sein, wenn dieser Ausschluss nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Förderungsmaßnahme hinlänglich kompensiert wird10. Untersagt sind alle Ungleichbehandlungen, die für Menschen mit Behinderungen zu einem Nachteil führen. Erfasst werden auch mittelbare Benachteiligungen, bei denen sich der Ausschluss von Betätigungsmöglichkeiten nicht als Ziel, sondern als Nebenfolge einer Maßnahme darstellt11. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG beinhaltet außer einem Benachteiligungsverbot auch einen Förderauftrag. Er vermittelt einen Anspruch auf die Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe nach Maßgabe der verfügbaren finanziellen, personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten10.

In der Literatur wird Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ein Paradigmenwechsel entnommen: Der tradierte sozialstaatlich-rehabilitative Umgang mit behinderten Menschen durch Fürsorge, die das Risiko der Entmündigung und Bevormundung in sich trage, werde durch einen Anspruch auf Schutz vor Diskriminierung ersetzt. Es werde nicht nur die benachteiligte Minderheit angesprochen, sondern auch die Mehrheitsgesellschaft in die Verantwortung genommen12.

Das Verbot der Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ist Grundrecht und zugleich objektive Wertentscheidung. Aus ihm folgt – über das sich aus dem Wortlaut unmittelbar ergebende Verbot der Benachteiligung hinaus – im Zusammenwirken mit speziellen Freiheitsrechten, dass der Staat eine besondere Verantwortung für behinderte Menschen trägt13. Nach dem Willen des Verfassungsgebers fließt das Verbot der Benachteiligung behinderter Menschen als Teil der objektiven Wertordnung auch in die Auslegung des Zivilrechts ein14.

Das Benachteiligungsverbot wirkt sich insbesondere bei der Auslegung zivilrechtlicher Generalklauseln9, bei der Bestimmung von Verkehrssicherungspflichten und des Mitverschuldens15 oder des als üblich Hinzunehmenden aus16. So ist beispielsweise das Nutzungsrecht des Mieters, auch wenn dessen behinderter Angehöriger oder Lebensgefährte nicht Partei des Mietvertrags ist, durch die Grundentscheidung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG mitgeprägt17. Das Benachteiligungsverbot führt dazu, dass im nachbarlichen Zusammenleben mit behinderten Menschen ein erhöhtes Maß an Toleranzbereitschaft zu fordern ist18. So sind etwa Ausnahmen von einem Hundehaltungsverbot in einer Wohnungseigentumsgemeinschaft geboten, wenn der Hund der Stabilisierung des seelischen Gleichgewichts und der Besserung des Gesundheitszustandes einer behinderten Person förderlich ist19.

Das Recht auf persönliche Mobilität aus Art. 20 BRK ist bei der Auslegung zivilrechtlicher Normen ebenfalls zu berücksichtigen20. Nach Art. 20 Buchstabe b BRK treffen die Vertragsstaaten wirksame Maßnahmen, um für Menschen mit Behinderungen persönliche Mobilität mit größtmöglicher Unabhängigkeit sicherzustellen, indem sie unter anderem ihren Zugang zu tierischer Hilfe erleichtern.

Völkervertragliche Bindungen haben innerstaatlich zwar nicht den Rang von Verfassungsrecht. Der UN-Behindertenrechtskonvention hat der Bundesgesetzgeber mittels förmlichen Gesetzes gemäß Art. 59 Abs. 2 GG zugestimmt. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung steht sie damit im Rang eines Bundesgesetzes. Gleichwohl besitzt sie verfassungsrechtliche Bedeutung als Auslegungshilfe für die Bestimmung des Inhalts und der Reichweite der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes. Ihre Heranziehung ist Ausdruck der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, das einer Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in inter- und supranationale Zusammenhänge sowie deren Weiterentwicklung nicht entgegensteht, sondern diese voraussetzt und erwartet. Deutsche Rechtsvorschriften sind nach Möglichkeit so auszulegen, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht entsteht.

Nach diesen Maßstäben verkennt die Entscheidung des Kammergerichts Berlin nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Bedeutung und Tragweite des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, weil sie dessen Ausstrahlungswirkung in das Zivilrecht nicht berücksichtigt. Indem das Kammergericht davon ausgeht, die Benachteiligung der Beschwerdeführerin sei nicht von § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG erfasst, weil es sich weder um eine unmittelbare Benachteiligung im Sinne von § 3 Abs. 1 AGG noch um eine mittelbare Benachteiligung im Sinne des § 3 Abs. 2 AGG handele, hat es das zivilrechtliche Benachteiligungsverbot nicht im Lichte des Grundrechts aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ausgelegt. Ob eine unmittelbare Benachteiligung wegen der Behinderung vorliegt, wofür – wie die Antidiskriminierungsstelle des Bundes ausführt – die enge Verbindung zwischen einer blinden Person und ihrem Führhund sprechen könnte, kann dahinstehen. Jedenfalls handelt es sich bei dem Durchgangsverbot, wenn § 3 Abs. 2 AGG im Lichte des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ausgelegt wird, um eine mittelbare und nicht gerechtfertigte Benachteiligung der Beschwerdeführerin.

Eine mittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften Personen wegen ihrer Behinderung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich. Das scheinbar neutrale Verbot, Hunde in die Orthopädische Gemeinschaftspraxis mitzuführen, benachteiligt die Beschwerdeführerin wegen ihrer Sehbehinderung in besonderem Maße. Denn das Durchgangsverbot verwehrt es ihr, die Praxisräume selbständig zu durchqueren, was sehenden Personen ohne Weiteres möglich ist. Das Kammergericht Berlin stellt darauf ab, dass die Beschwerdeführerin selbst gar nicht daran gehindert werde, durch die Praxisräume zu gehen, sondern sich wegen des Verbots, ihre Führhündin mitzunehmen, nur daran gehindert sehe. Hierbei beachtet es nicht den Paradigmenwechsel, den Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG mit sich gebracht hat. Denn es vergleicht die Beschwerdeführerin nicht mit anderen – nicht behinderten – selbständigen Personen, sondern erwartet von ihr, sich von anderen Personen helfen zu lassen und sich damit von ihnen abhängig zu machen. Dabei verkennt das Gericht, dass sich die Beschwerdeführerin ohne ihre Führhündin einer unbekannten oder wenig bekannten Person anvertrauen und sich, ohne dies zu wünschen, anfassen und führen oder im Rollstuhl schieben lassen müsste. Dies kommt einer – überholten – Bevormundung der Beschwerdeführerin gleich, weil es voraussetzt, dass diese die Kontrolle über ihre persönliche Sphäre (zeitweise) aufgibt.

Die Benachteiligung ist unter Berücksichtigung von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nicht durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt. Das Kammergericht Berlin hält die Benachteiligung der Beschwerdeführerin für sachlich begründet, weil die Ärzte „hygienische Gründe“ geltend gemacht haben. Dabei differenziert es nicht zwischen dem generellen Verbot des Mitbringens von Tieren in die Praxis und dessen Anwendung auf die Beschwerdeführerin und deren Blindenführhündin. Es ist bereits zweifelhaft, ob hygienische Gründe, die gegen das Mitbringen von Tieren in eine Arztpraxis angeführt werden mögen, mit Blick auf das – gelegentliche – Mitführen eines Blindenführhundes einen sachgerechten Grund für das Durchgangsverbot darstellen können. Zwar geht das Kammergericht Berlin selbst davon aus, dass eine Infektionsgefahr zu vernachlässigen sei. Dennoch nimmt es an, auch ein gepflegter Hund könne die Sauberkeit der Praxisräume beeinträchtigen, sei es durch Schmutz oder Feuchtigkeit, Haarverlust oder Parasitenbefall. Dabei lässt es außer Acht, dass es sich bei dem Raum, den die Beschwerdeführerin durchqueren muss, um einen Wartebereich handelt, den Menschen mit Straßenschuhen und in Straßenkleidung betreten oder unter Umständen in einem Rollstuhl aufsuchen müssen. Deshalb ist es eher fernliegend, davon auszugehen, dass der Führhund der Beschwerdeführerin beim gelegentlichen Durchqueren des Warteraums zu einer nennenswerten Beeinträchtigung der hygienischen Verhältnisse in der Praxis führen könnte.

Soweit das Kammergericht Berlin darauf abstellt, dass ein berechtigtes Ziel einer ärztlichen Praxis bereits darin bestehe, gegenüber ihren Patienten den Eindruck nicht uneingeschränkt reinlicher und auf deren körperliches Wohlbefinden ausgerichteter Zustände zu vermeiden, beziehungsweise dass es legitim sei, dass die Ärzte ihre Praxis keinem „Makel“ aussetzen wollten, vermag diese Überlegung möglicherweise ebenfalls ein generelles Mitnahmeverbot von Tieren in die Praxis zu begründen. Da aber die Beschwerdeführerin – für alle anderen Patienten sichtbar – beim Durchqueren des Warteraums auf ihren Führhund angewiesen ist, ist schon nicht nachvollziehbar, inwieweit die Praxis durch das Zulassen dieser Handlung in den Verdacht unreinlicher Verhältnisse oder eines „Makels“ geraten könnte.

Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt das Kammergericht Berlin – so das Bundesverfassungsgericht weiter – die Bedeutung und Tragweite des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nicht hinreichend.

Das Durchgangsverbot ist bereits nicht erforderlich, um einer – zu vernachlässigenden – Infektionsgefahr in der Orthopädiepraxis vorzubeugen. Das Kammergericht Berlin verkennt, dass sowohl das Robert Koch-Institut als auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft davon ausgehen, dass aus hygienischer Sicht in der Regel keine Einwände gegen die Mitnahme von Blindenführhunden in Praxen und Krankenhausräume bestehen ((Rundschreiben Nr. 52/2012 der Deutschen Krankenhausgesellschaft vom 07.02.2012). Bedenken gegen diese Einschätzung sind im Ausgangsverfahren weder vorgetragen worden, noch sind sie ansonsten ersichtlich.

Bei der Prüfung der Angemessenheit des Durchgangsverbots sind die auf Seiten der Ärzte betroffenen Interessen – die Berufsausübungsfreiheit und die allgemeine Handlungsfreiheit in Form der Privatautonomie – gegen das in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG geschützte Recht der Beschwerdeführerin, nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligt zu werden, gegeneinander abzuwägen. Während die wirtschaftlichen Interessen der im Ausgangsverfahren beklagten Ärzte bei einer Duldung des Durchquerens der Praxis mit Führhund schon wegen der kurzen Dauer von dessen Anwesenheit, wenn überhaupt, dann lediglich in geringem Maße beeinträchtigt werden, bringt das Durchgangsverbot erhebliche Nachteile für die Beschwerdeführerin. Das Verbot macht es ihr unmöglich, sich, wie jede nicht behinderte Person auch, selbständig und ohne fremde Hilfe in die von ihr bevorzugte Physiotherapiepraxis zu gelangen und sich dort behandeln zu lassen. Das Kammergericht Berlin verkennt offenkundig, dass das Benachteiligungsverbot in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG es Menschen mit Behinderungen ermöglichen soll, so weit wie möglich ein selbstbestimmtes und selbständiges Leben zu führen. Das Benachteiligungsverbot untersagt es, behinderte Menschen von Betätigungen auszuschließen, die nicht Behinderten offenstehen, wenn nicht zwingende Gründe für einen solchen Ausschluss vorliegen. Dieser Auslegung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG liegt das auch in Art. 1 und Art. 3 Buchstabe a und c BRK zum Ausdruck kommende Ziel zugrunde, die individuelle Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie die Unabhängigkeit von Menschen mit Behinderungen zu achten und ihnen die volle und wirksame Teilhabe an der und die Einbeziehung in die Gesellschaft zu gewährleisten. Mit diesem Ziel und dem dahinterstehenden Menschenbild ist es nicht vereinbar, die Beschwerdeführerin darauf zu verweisen, ihren Führhund vor der Praxis anzuketten und sich von der Hilfe ihr fremder oder wenig bekannter Personen abhängig zu machen. Deshalb müssen die Interessen der Ärzte hinter dem Recht der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zurückstehen. Das Durchgangsverbot ist unverhältnismäßig und benachteiligt die Beschwerdeführerin in verfassungswidriger Weise.

Danach kann offenbleiben, ob die Beschwerdeführerin auch in dem von ihr gerügten Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt ist.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 30.01.2020- 2 BvR 1005/18

ECLI:DE:BVerfG:2020:rk20200130.2bvr100518

  1. LG Berlin, Urteil vom 07.11.2016 – 6 O 66/16 []
  2. KG Berlin, Urteil vom 16.04.2018 – 20 U 160/16 []
  3. BVerfG, Beschluss vom 06.11.2019 – 1 BvR 16/13 [] []
  4. ABl EU Nr. L 180 vom 19.07.2000, S. 22 []
  5. ABl EU Nr. L 303 vom 02.12.2000, S. 16 []
  6. Langenfeld, in: Maunz/Dürig, GG, Stand August 2019, Art. 3 Abs. 3, Rn. 77 f. []
  7. BVerfG, Beschluss vom 10.06.1964 – 1 BvR 37/63, BVerfGE 18, 85 []
  8. BVerfG, Urteil vom 15.01.1958 – 1 BvR 400/51, BVerfGE 7, 198 []
  9. BVerfG, Beschluss vom 19.01.1999 – 1 BvR 2161/94, BVerfGE 99, 341 [] []
  10. BVerfG, Beschlüsse vom 08.10.1997 – 1 BvR 9/97, BVerfGE 96, 288; vom 29.01.2019 – 2 BvC 62/14 [] []
  11. Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3, Rn. 537; Nußberger, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 3, Rn. 311 []
  12. Baer/Markard, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3, Rn. 534 []
  13. BVerfG, Beschluss vom 08.10.1997 – 1 BvR 9/97, BVerfGE 96, 288 []
  14. BVerfG, Beschlüsse vom 19.01.1999 – 1 BvR 2161/94, BVerfGE 99, 341; vom 28.03.2000 – 1 BvR 1460/99; vom 24.03.2016 – 1 BvR 2012/13; vom 10.06.2016 – 1 BvR 742/16; vom 31.01.2017 – 1 BvR 2710/16 []
  15. BVerfG, Beschlüsse vom 24.03.2016 – 1 BvR 2012/13; vom 10.06.2016 – 1 BvR 742/16 []
  16. Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3, Rn. 538 []
  17. BVerfG, Beschluss vom 28.03.2000 – 1 BvR 1460/99 []
  18. OLG Karlsruhe, Urteil vom 09.06.2000 – 14 U 19/99 []
  19. BayObLG, Beschluss vom 25.10.2001 – 2 ZZ BR 81/01 []
  20. BVerfG, Beschluss vom 31.01.2017 – 1 BvR 2710/16 []

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