Blindenführhund ist besser als Blindenlangstock – Krankenkasse muss zahlen

Blindenführhunde sind teuer. Richtig teuer. Nicht in der Haltung, sondern aufgrund der besonderen, aufwendigen und intensiven Ausbildung in der Anschaffung.

Darum scheuen sich Krankenkassen häufig davor, die Kosten für die Anschaffung eines Blindenführhundes zu übernehmen.

Wir hatten hier bereits über einen Fall berichtet, in dem die Krankenkasse – im Ergebnis erfolglos – die Kosten nicht übernehmen wollte, weil der Versicherte ohnehin zu krank gewesen sei.

Das Sozialgericht Aachen hatte nun über einen Fall zu entscheiden, in dem die Krankenkasse die Auffassung vertrat, dass ein Blindenlangstock doch ausreiche. Damit hatte sie die Kostenübernahme für einen Blindenführhund verweigert.

Die Klage der Versicherten hatte vor dem Sozialgericht Aachen Erfolg.

Worum ging es konkret?

Die klagende Versicherte begehrt die Versorgung mit einem Blindenführhund.

Die am 20.11.1955 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert.

Sie ist infolge einer myopischen Makuladegeneration mit einem Visus unter 0,02 beschränkt auf punktuelle Restsehinseln erblindet. Vom 18.06.2018 bis 19.02.2019 erhielt die Klägerin 16 Schulungseinheiten Orientierungs– und Mobilitätstraining, davon eine Einheit in der Dämmerung.

Am 07.04.2019 beantragte die Klägerin unter Vorlage eines Kostenvoranschlages und einer Bescheinigung des sie behandelnden Augenarztes die Versorgung mit einem Blindenführhund bei der Beklagten.

Unter dem 24.04.2019 forderte die Beklagte bei der Klägerin Unterlagen zur Einholung einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) an, u.a. eine Bestätigung der Führhundschule zur Eignung der Klägerin. Nach Eingang der Unterlagen erstatte der MDK unter dem 01.08.2019 sein Gutachten. U.a. auf Grundlage einer telefonischen Rücksprache mit der Lehrerin der Klägerin für das Orientierungs- und Mobilitätstraining erscheine die Klägerin in der Lage, sich aufgrund Ihres Restsehvermögens und ihrer hohen Selbstständigkeit im nahen Wohnumfeld unter Nutzung des Blindenlangstockes zu orientieren. Probleme in der Dämmerung seien nachvollziehbar, hierfür aber zusätzliche Schulungen des Orientierungs – und Mobilitätstrainings ebenso ausreichend wie zur sicheren Umgehung unerwarteter Hindernisse.

Soweit die Klägerin außerdem nachvollziehbar darlege, dass sie ihre Enkeltochter vom Kindergarten abholen und aufgrund ihres politischen und ehrenamtlichen Engagements zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedenen Orten sein wolle, zählten diese Aktivitäten nicht zu den Grundbedürfnissen und ihre Ermöglichung liege außerhalb der Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung.

Mit Bescheid vom 12.08.2019 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin unter Bezugnahme auf die Auffassung des MDK ab.

Der hiergegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos.

Die daraufhin zum Sozialgericht Aachen erhobene Klage hatte Erfolg.

Die Entscheidung:

Das Sozialgericht Aachen hat einen Befundbericht des behandelnden Augenarztes eingeholt und sodann Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens des Augenarztes Prof. Dr. Walter (Klinik für Augenheikunde der Universitätsklinik RWTH Aachen) vom 08.01.2021. Der Sachverständige kommt zu der Einschätzung, dass ein Blindenführhund in vielen Alltagsituationen für die Klägerin ein besser geeignetes Hilfsmittel darstelle als der Langstock. Die Erkennung von Höhen –/Seitenhindernissen, also Hindernissen, die über der Gürtellinie des blinden Hundeführers liegen (Schranken, Laderampen, herunterhängenden Äste, Markisen etc.) könnten von einem Blindenhund erkannt und sicher umgangen werden. Der Hund könne den sehbeeinträchtigen – bzw. blinden Menschen auf einer geraden Linie führen, gezielt Hindernissen, z.B. Baustellen, ausweichen und danach wieder in die gerade Linie, z.B. in die Gehwegsmitte, zurückfinden, um dem Hundeführer die Orientierung zu erleichtern und den nötigen Sicherheitsabstand, z.B. zur Bordsteinkante, zu gewähren. Ein zielgerichtetes gerades Gehen sei mit einem Langstock nicht immer möglich.

Das Sozialgericht Aachen hat der Klage stattgegeben.

Der geltend gemachte Anspruch der Klägerin richtet sich nach § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V. Danach haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst gemäß § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB V die Versorgung mit Hilfsmitteln.

Maßgebende Vorschrift für die Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im Bereich der Hilfsmittelversorgung ist § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V in der ab dem 20.10.2020 gültigen Fassung. Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder – wie vorliegend – eine Behinderung auszugleichen1, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Gemäß § 33 Abs. 1 S. 2 SGB V müssen die Hilfsmittel mindestens die im Hilfsmittelverzeichnis nach § 139 Abs. 2 SGB V festgelegten Anforderungen an die Qualität der Versorgung und der Produkte erfüllen, soweit sie im Hilfsmittelverzeichnis nach § 139 Abs. 1 gelistet oder von den dort genannten Produktgruppen erfasst sind. Wählen Versicherte Hilfsmittel, die über das Maß des Notwendigen hinausgehen, haben sie die Mehrkosten und dadurch bedingte höhere Folgekosten selbst zu tragen (§ 33 Abs. 1 S. 6 SGB V2).

Dabei besteht ein Anspruch auf Versorgung im Hinblick auf „die Erforderlichkeit im Einzelfall“ zur Erreichung des Versorgungsziels nur, soweit das begehrte Hilfsmittel (individuell) geeignet, ausreichend und angemessen ist, und unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes (§ 12 SGB V) das Maß des Notwendigen nicht zu überschreitet3; darüber hinausgehende Leistungen darf die Krankenkasse nicht bewilligen4. Hingegen ist weder die vertragsärztliche Verordnung (§ 73 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 SGB V) des begehrten Hilfsmittels noch seine Listung im Hilfsmittelverzeichnis (§ 139 SGB V) verbindlich für die Leistungspflicht der Krankenkasse5.

Diese Anspruchsvoraussetzungen liegen vor.

Ein Blindenführhund ist ein Hilfsmittel. Hilfsmittel i.S. von § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V sind alle sächlichen Mittel, die den Erfolg einer Krankenbehandlung sichern, einer drohenden Behinderung vorbeugen oder eine bestehende Behinderung ausgleichen, selbst dann, wenn ihre Anwendung durch den Versicherten selbst sicherzustellen ist6. Diese Voraussetzungen erfüllt auch ein Blindenführhund7, denn die Hilfsmitteleigenschaft wird allein nach objektiven Kriterien bestimmt. Personenbezogene Merkmale sind hierfür nicht maßgebend8. Entsprechend ist der Blindenführhund im Hilfsmittelverzeichnis gelistet (vgl. Hilfsmittelverzeichnis Produktgruppe 7, Bezeichnung 09, Untergruppe 09).

Der Blindenführhund ist weder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen noch ein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, der üblicherweise von einer großen Zahl von nichtbehinderten Menschen regelmäßig benutzt wird9.

Zudem ist die begehrte Versorgung mit einem Blindenführhund im Allgemeinen auch ebenso (objektiv wie subjektiv) geeignet und ausreichend zum Ausgleich der Sehbehinderung/ Blindheit (vgl. § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX) der Klägerin. Auch Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkte stehen der begehrten Versorgung nicht entgegen. Dabei kommt es im Ergebnis nicht darauf an, ob ein unmittelbarer oder mittelbarer Behinderungsausgleich den Bezugspunkt darstellt.

Die Frage, ob ein Hilfsmittel der Sicherung menschlicher Grundbedürfnisse dient, ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes anhand einer Verobjektivierung des Merkmals der Erforderlichkeit i. S. e. Geeignetheit und Erforderlichkeit hinsichtlich der Erreichung der in § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V genannten Versorgungsziele (allgemein) zu prüfen. Diese Eignung und Erforderlichkeit zählt ebenso wie die Hilfsmitteleigenschaft und das Nichtvorliegen der in § 33 Abs. 1 S. 1 Hbs. 2 SGB V formulierten Ausschlusstatbestände zu den objektiven, d.h. unabhängig vom konkreten Einzelfall zu beurteilenden Anspruchsvoraussetzungen10. Hierfür ist allein die Zielsetzung des § 33 SGB V und somit die Abgrenzung der Leistungspflicht der GKV von der anderer Träger (§ 6 SGB IX) nach einem abstrakt-aufgabenbezogenen Maßstab ausschlaggebend11.

Die Erforderlichkeit der Hilfsmittelversorgung „im Einzelfall“ (§ 33 Abs. 1 S. 1 SGB V) ist dagegen – ebenso wie deren Wirtschaftlichkeit – eine subjektbezogene Anspruchsvoraussetzung, die nach einem konkret-individuellen Maßstab beurteilt wird10. Die fehlende Wirtschaftlichkeit setzt grds. eine gleiche Eignung der alternativen Versorgungsmöglichkeit zur Erreichung des Versorgungszieles voraus. Innerhalb zweier geeigneter und gleich wirtschaftlicher Versorgungsmöglichkeiten hat der Versicherte ein Wahlrecht12.

Das Versorgungsziel des Behinderungsausgleiches (§ 33 Abs. 1 S. 1. Var. 3 SGB V) hat, so das Sozialgericht Aachen weiter, grundsätzlich zwei Zielrichtungen13:

Im Vordergrund steht der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst. Davon ist auszugehen, wenn das Hilfsmittel die Ausübung der beeinträchtigten Körperfunktion (z. B. das Hören oder das Sehen) selbst ermöglicht, ersetzt oder erleichtert. Bei diesem sog. unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts14. Dabei kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel grds. nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist15. Die Prüfung, ob mit der vorgesehenen Verwendung ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist, entfällt in den Fällen der Erst- und Ersatzausstattung, weil sich die unmittelbar auszugleichende Funktionsbeeinträchtigung selbst immer schon auf ein Grundbedürfnis bezieht; die Erhaltung bzw. Wiederherstellung oder Ersetzung einer Körperfunktion ist als solche ein Grundbedürfnis14.

Daneben können Hilfsmittel den Zweck haben, die direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen. Im Rahmen dieses sog. mittelbaren Behinderungsausgleichs geht es nicht um einen Ausgleich im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines nicht behinderten Menschen. Denn Aufgabe der GKV ist in allen Fällen allein die medizinische Rehabilitation (vgl. § 1 SGB V, § 6 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 5 Nr. 1 und 3 SGB IX), also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche, soziale oder berufliche Rehabilitation ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme16. Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist daher von der GKV nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft17. Nach ständiger Rechtsprechung gehören zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums17.

Die Bedeutung der Unterscheidung zwischen unmittelbarem und mittelbarem Behinderungsausgleich liegt – dies relativiert sie – allein in der Beschreibung des jeweiligen Grundbedürfnisses. Hinsichtlich des Versorgungsumfanges des jeweiligen Grundbedürfnisses gilt derselbe Maßstab. Insbesondere bezüglich der Qualität, Quantität und Diversität kommt es entscheidend auf den Umfang der mit dem begehrten Hilfsmittel zu erreichenden Gebrauchsvorteile im Hinblick auf das zu befriedigende Grundbedürfnis an. Es besteht Anspruch auf die im Einzelfall ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung, nicht jedoch auf eine Optimalversorgung. Im Ergebnis kommt es daher auf den Umfang der mit dem Hilfsmittel zu erreichenden Gebrauchsvorteile an11. Eine Hilfsmittelversorgung ist danach nicht geschuldet, wenn sie bezogen auf das Versorgungsziel  – vergleichen mit anderen, wirtschaftlichern Versorgungsarten – keinen erheblichen Gebrauchsvorteil bietet. Nicht ausreichend ist insofern eine geringfügige Verbesserung des Gebrauchsnutzens bei einem unverhältnismäßigen Mehraufwand18. Keine Leistungspflicht besteht ferner für solche Innovationen, die nicht die Funktionalität betreffen, sondern in erste Linie die Bequemlichkeit und den Komfort bei der Nutzung des Hilfsmittels oder dessen Ästhetik (z. B. Fernbedienung, blue-tooth-Fähigkeit von Hörgeräten o. ä.)19.

Nach Maßgabe der dargelegten Grundsätze handelt es sich nach Auffassung des Sozialgerichts Aachen bei der Versorgung mit einem Blindenführhund nach der von der Beklagten ignorierten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und der herrschenden Rechtsprechung um einen unmittelbaren Behinderungsausgleich. Bezugspunkt der Erforderlichkeit ist insofern der Ausgleich der Körperfunktion des Sehens – ohne räumliche Einschränkung auf den Nahbereich. Das Sozialgericht Aachen sieht keinen Anlass von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts abzuweichen, das in Bezug auf die Versorgung mit einem Blindenführhund bei Vorliegen einer Erblindung ausgeführt hat:

Auch wenn man mit der Rechtsprechung des 3. Senats des BSG bei Hilfsmitteln danach unterscheidet, ob sie nur mittelbar oder ob sie unmittelbar auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet sind, muß der Blindenführhund zu letzteren gezählt werden, die nach der ständigen Rechtsprechung des BSG in den Leistungsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung fallen. Ein derartiges „unmittelbares“ Hilfsmittel ist auch dann gegeben, wenn es nicht direkt am Körper ausgleichend wirkt (BSGE 45, 133, 134; SozR 2200 § 182b Nrn 12, 13 und 16). Es genügt vielmehr, daß das Hilfsmittel die beeinträchtigte bzw erschwerte Funktion ermöglicht, ersetzt, erleichtert oder ergänzt (SozR 2200 § 182b Nrn 12, 13 und 17). Das Sehen ermöglicht – ua – die Orientierung im Freien und in geschlossenen Räumen und bezweckt insoweit auch unmittelbar die normale – unbehinderte – Fortbewegung. Für die Anerkennung als Hilfsmittel im Sinne des § 182b Satz 1 RVO kann deshalb hier nur maßgeblich sein, daß der Blindenführhund für die durch die Blindheit ausgefallene oder zumindest erschwerte Möglichkeit der Umweltkontrolle einen Funktionsausgleich bietet, der unmittelbar diese Behinderung betrifft und nicht erst bei den Folgen der Behinderung in bestimmten Lebensbereichen einsetzt (vgl hierzu auch Urteil des 11. Senats des BSG in SozR 2200 § 182b Nr 13 und Urteil des 3. Senats in SozR 2200 § 182b Nr 17)“ (BSG, Urteil vom 25. Februar 1981 – 5a/5 RKn 35/78 –, BSGE 51, 206-209, SozR 2200 § 182b Nr 19, Rn. 20; ferner: Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 10. Mai 2012 – L 11 KR 804/11 –, Rn. 25, juris; Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 02. Oktober 2013 – L 5 KR 99/13 –, Rn. 14, juris; SG Bremen, Urteil vom 24. Mai 2016 – S 4 KR 153/15 –, Rn. 15, juris; offen gelassen von: Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 21. November 2017 – L 16/1 KR 371/15 –, Rn. 32, juris).

Eine Begründung dafür, weshalb sie die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts als mittlerweile überholt ansieht, ist die Beklagte schuldig geblieben. Die zitierte Entscheidung ist zwar älteren Datums, deshalb jedoch nicht rechtlich überholt20. Der Einwand der Beklagten, ein Blindenhund ersetze nicht das Sehen, sondern ermögliche dem Blinden eine gewisse Umfeldkontrolle und Orientierung21 und sei insofern vergleichbar mit einer Rollstuhlversorgung, die der Fortbewegung diene, und nicht einer Prothesenversorgung, die ein Gehen ermögliche, ist nach Ansicht des Sozialgerichts Aachen zwar vertretbar, aber letztlich nicht geeignet die Überzeugungskraft der höchstrichterlichen Begründung zu übertreffen. Es wird außer Acht gelassen, dass der Sehsinn des Hundes den ausgefallen Sehsinn des erblindeten Menschen ersetzt. Der Führhund kann sehen und einmal Gesehenes bei der nächsten Begegnung wiedererkennen. Damit tritt der Sehsinn des Hundes unmittelbar an die Stelle des weggefallenen menschlichen Sehsinnes. Der Sinn es Hundes dient – wie der menschliche Sehsinn – der Umfeldkontrolle und Orientierung.  Ein Rollstuhl ersetzt hingegen, anders als die Beinprothese, nicht unmittelbar die Beine des Gehbehinderten bzw. deren Funktionsfähigkeit.

Ein Blindenführhund ist vorliegend ferner objektiv wie subjektiv zur Erreichung des Versorgungsziels geeignet, ausreichend und angemessen ist, und überschreitet unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes (§ 12 SGB V) das Maß des Notwendigen nicht.

Dass ein Blindenführhund zum Ausgleich einer Sehbehinderung – und sei es auch beschränkt auf die Erschließung des Nahbereiches – objektiv geeignet ist unterliegt keinen Zweifeln und wird auch seitens der Beklagten nicht in Abrede gestellt.

Entgegen der Auffassung der Beklagten kann die Klägerin nicht auf die Verwendung ihres Blindenlangstockes – unter Inanspruchnahme weiterer Schulungen des Orientierungs – und Mobilitätstrainings – verwiesen werden. Dies gilt selbst dann, wenn man der Auffassung der Beklagten folgte, dass die Versorgung mit einem Blindenführhund einen Fall des mittelbaren Behinderungsausgleich zur der Erschließung des Nahbereiches der eigenen Wohnung darstellt. Die Beklagte vermag Widersprüchlichkeiten in ihrer Argumentation in Bezug auf eine generell fehlende Erforderlichkeit des Hilfsmittels „Blindenführhund“ einerseits und eine einzelfallbezogene Notwendigkeit andererseits nicht schlüssig aufzulösen. Entsprechend konnte die Vertreterin der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung kein konkretes Szenario aufzeigen, indem die Versorgung mit einem Blindenführhund ihrer Ansicht nach erforderlich sein kann.

Das Sozialgericht Aachen hält die Darstellungen der Klägerin, des Sachverständigen und insbesondere selbst der Orientierungs- und Mobilitätstrainerin der Klägerin in Bezug auf die Wesentlichkeit der Gebrauchsvorteile eines Blindenführhundes gegenüber dem Langstockeinsatz für überzeugend.

Der Blindenlangstock ist zwar ein wesentliches Hilfsmittel zum Ertasten von Untergründen und zur Fortbewegung. Sein Gebrauch schützt den Blinden aber nicht davor, mit Hindernissen oberhalb der Gürtellinie zu kollidieren. Er ermöglicht nicht das Auffinden von Ampelmasten oder Treppen, Aufzügen und Türen in großen Gebäuden. Bei Schnee sind die Konturen der Straßen und Straßenbegrenzungen verschüttet, so dass sie mit dem Blindenlangstock nicht mehr erkannt werden können. Beim Überqueren sehr breiter Straßen, sehr großer Kreuzungen, beim Überwinden großer Plätze oder freier Flächen ist auch ein sehr gut geschulter Blinder nicht in der Lage, allein mit dem Blindenlangstock eine gerade Linie einzuhalten.

Das Landessozialgericht Baden-Württemberg22.

Die Beklagte ist, so das Sozialgericht Aachen weiter, insofern eine plausible Erläuterung schuldig geblieben, wie sie zu der Einschätzung/Behauptung kommt, dass ein Blindenführhund überhaupt keinen Gebrauchsvorteil im Vergleich zur angebotenen Alternative (weitere Mobilitätsschulungen mit dem Blindenlangstock) biete. Sie führt hierzu nichts an. Die Entscheidung des MDK im Gutachten vom 31.07.2019 basierte grundlegend auf der Annahme, es handele sich um einen mittelbaren Behinderungsausgleich. Die von der Klägerin dargelegten Gebrauchsvorteile seien nachvollziehbar. Sie zählten allein nicht zu den Grundbedürfnissen, für die die gesetzliche Krankenversicherung zuständig sei. Gleichzeitig stellte der MDK anheim zu prüfen, ob Ansprüche gegenüber der Eingliederungshilfe bestünden um sodann die erneute Prüfung eines Anspruches gegenüber der Beklagten nach Absolvierung einer zusätzlichen Orientierungsschulung vorzuschlagen (MDK – Stellungnahme vom 07.11.2019). Dies steht in offenem Spannungsverhältnis zur Einschätzung der Beklagten, Gebrauchsvorteile seien schlicht nicht gegeben. Bedenklich ist zudem, dass die Beklagte dem MDK überlässt, die rechtlichen Grundlagen seiner sozialmedizinischen Einschätzung selbst zu suchen. So geht die Beurteilung des MDK letztlich unter rechtlichen Gesichtspunkten fehl.

Gerade die klägerseitig sowie durch den Sachverständigen und die Orientierungs – und Mobilitätstrainerin der Klägerin (in Übereinstimmung mit der o.a. Rechtsprechung) anschaulich und nachvollziehbar dargelegten erheblichen Aspekte des Sicherheitsgewinnes greifen schon im Bereich des Erschließens des Nahbereiches der Wohnung voll durch, so dass auch mit der Ansicht der Beklagten die Versorgung mit einem Blindenführhund (objektiv) erforderlich ist. Zu den vitalen Lebensbedürfnissen im Bereich des Gehens (Mobilität) gehört die Fähigkeit sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung verlassen zu können, um bei einem kurzen Spaziergang „an die frische Luft zu kommen“ oder um die – üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden – Stellen erreichen zu können, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind23. Dies umfasst in qualitativer Hinsicht die Möglichkeit der sicheren Erschließung dieses Bereiches. Das wird schon nach dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung erkennbar: Derjenige, der sich infolge körperlicher Mängel nicht sicher im (Straßen-)Verkehr bewegen kann, darf am Verkehr nur teilnehmen, wenn Vorsorge getroffen ist, dass er andere nicht gefährdet (§ 2 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr – Fahrerlaubnis-Verordnung [FeV] in der Fassung vom 13.12.2010). Wesentlich sehbehinderte Fußgänger können ihre Behinderung durch einen weißen Blindenstock, die Begleitung durch einen Blindenhund im weißen Führgeschirr und gelbe Abzeichen mit drei schwarzen Punkten kenntlich machen (§ 2 Abs. 2 S. 3 FeV). Kann sich ein blinder Mensch im (Straßen-)Verkehr nicht sicher fortbewegen, so darf er – dies folgt aus § 2 Abs. 1 FeV – am öffentlichen Verkehr nicht teilnehmen24. Ferner darf – wie das Bundessozialgericht in seiner jüngsten Rechtsprechung heraushebt11 – das Grundbedürfnis der Erschließung des Nahbereiches gerade in Bezug auf die Art und Weise, wie sich Versicherte den Nahbereich der Wohnung zumutbar und in angemessener Weise erschließen, nicht zu eng gefasst werden. Dies folgt unter Beachtung der Teilhabeziele des Neunten Sozialgesetzbuches – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (SGB IX) (vgl. § 11 Abs. 2 S. 3 SGB V), insbesondere ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen, aus dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot (Art. 3 Abs. 3 S. 2 Grundgesetz [GG]) als Grundrecht und objektive Wertentscheidung i.V.m dem Recht auf persönliche Mobilität nach Art. 20 UN-Behindertenrechtskonvention. Den Sicherheitsaspekt betreffend wird dies durch die Wertentscheidungen aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) flankiert. Dem ist dadurch Rechnung zu tragen, dass im Rahmen des Behinderungsausgleiches danach zu fragen ist, ob durch die konkrete Ausführung eines benötigten Hilfsmittels (hier: Langstock vs. Blindenführhund) die Erschließung des Nahbereiches für einen behinderten Menschen i.S.e. „maßgeblichen Erleichterung“ verbessert, vereinfacht oder erleichtert werden kann. Die insbesondere seitens des Sachverständigen und der Orientierungs- und Mobilitätstrainerin beschriebenen Vorteile eines Blindenführhundes gegenüber der Versorgung (ausschließlich) mit einem Langstock sind damit im Nahbereich gar über den Sicherheitsaspekt hinausgehend beachtlich, so etwa in Bezug auf die Möglichkeit der zügigeren Fortbewegung ohne „extrem hohe Konzentration“ (Stellungnahme der OM-Trainerin). Auch die Fähigkeit des Blindenführhundes Orte, etwa einen Supermarkt, eine Apotheke, Bank o. ä. auf Befehl des Blindenhundeführers aufsuchen und den Weg, trotz unerwarteter Hindernisse, finden zu können kommt im Nahbereich der Wohnung zum Tragen und geht über Aspekte des Komforts und der Bequemlichkeit hinaus.

Auch die Erforderlichkeit der Hilfsmittelversorgung „im Einzelfall“ (§ 33 Abs. 1 S. 1 SGB V) ist als subjektbezogene Anspruchsvoraussetzung gegeben, so dass Gesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit keine andere Entscheidung rechtfertigen.

Dies folgt im vorliegenden Fall in Korrespondenz zur objektiven Erforderlichkeit. Die allgemein beschriebenen Vorteile eines Blindenführhundes gegenüber dem Blindenlangstock bestehen gerade auch bei der Klägerin. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 09.01.2021 hinsichtlich der Aspekte der Erforderlichkeit sowohl allgemein als auch konkret in Bezug auf die Klägerin ausgeführt. Bei der Klägerin liege eine Erblindung im Sinne des Gesetzes vor. Nicht nur die zentrale Sehkraft sei massiv herabgesetzt, auch das periphere Sichtfeld sei durch einen zusätzlichen Glaukomschaden, bis auf punktuelle Restinseln, nicht mehr vorhanden. Die Klägerin habe ihm gegenüber anschaulich berichtet, dass etwa die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel für sie oftmals eine Herausforderung darstelle, da sie Gebäudeeingänge, Türen, Treppen Auf– bzw. Abgänge an Haltestellen und Bahnhöfen nur mit Hilfe des Langstockes oftmals nicht finde. Sie habe von einer Situation berichtet, als sie am Dürener Bahnhof eine Treppe hinuntergefallen sei, da sie diese nicht gesehen und mit dem Langstock zu spät erfasst habe.

Auch in Bezug auf die Erschließung des Nahbereiches von Relevanz hat er ausgeführt, Dämmerung oder schlechte Witterungsverhältnisse (z.B. Schnee), erschwerten der Klägerin im Zusammenhang mit dem massiv eingeschränkten Gesichtsfeld das sichere Gehen und die Orientierung zusätzlich. Das Zurechtfinden auf großen Plätzen ohne bzw. mit unzureichendem Leitliniensystem und/oder in großen Menschenansammlungen, wie es der Klägerin auf dem Weg zum Supermarkt, zur Bank, zur Poststelle oder zur Stadtverwaltung begegne, sei der Klägerin nur mit dem Langstock oft kaum bis gar nicht ohne fremde Hilfe möglich. Große Probleme bereiteten ihr unerwartete Hindernisse wie Baustellen oder die oftmals kreuz und quer auf den Bürgersteigen oder auf der Straße herumliegenden Elektroscooter. Hiergegen lässt sich nicht einwenden, dass Besonderheiten des Wohnortes nicht maßgeblich sind, vielmehr ein abstrakter Maßstab des Wohnumfeldes gelten soll25. Denn die konkreten Schwierigkeiten der Klägerin sind für ein städtisches Wohnumfeld, in dem die meisten Menschen in Deutschland leben, typisch.

An der subjektiven Eignung der Klägerin zur Haltung und Nutzung eines Blindenführhundes hat die Kammer keine Zweifel. Vage Zweifel der Beklagten – erstmals im Rahmen der mündlichen Verhandlung in den Raum gestellt – sind nicht begründet. Die im Umgang mit Hunden vertraute Klägerin hat insbesondere auf Aufforderung der Beklagten vom 24.04.2019 dem MDM eine Bescheinigung einer Blindenführhundschule (vom 11.06.2019) über ihre Eignung zur Haltung/Führung eines Blindenführhundes vorgelegt sowie (unter dem 13.06.2019) zu den Gesichtspunkten einer artgerechten Haltungsmöglichkeit Stellung bezogen, ohne dass der MDK Zweifel an der subjektiven Eignung geäußert hätte. Die Klägerin hat auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung glaubhaft verdeutlicht, dass ihr die Verantwortung, die mit der Haltung eines Blindenführhundes verbunden ist, bewusst ist.

Sozialgericht Aachen, Urteil vom 02.03.2021 – S 14 KR 299/20
  1. vgl. zur vorliegend unproblematischen Abgrenzung der 3 Var.: BSG, Urteile vom 07.05.2020 – B 3 KR 7/19 R; vom 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R, BSGE 125, 189 []
  2. hierzu Gerlach, in: Hauck, Noftz, SGB V, Erg.-Lfg. 5/2018, § 33, Rn. 125 []
  3. Beck/Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 33 SGB V, Rn. 37 ff. []
  4. Engelhard/Helbig in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 12 SGB V, Rn. 88-90 []
  5. BSG, Urteil vom 10.03.2011 – B 3 KR 9/10 R; Gerlach, in: Hauck/Noftz, SGBV, Stand Mai 2018, § 33, Rn. 42, 53 m.w.N. []
  6. BSG, Urteil vom 28.06.2001 – B 3 KR 3/00 []
  7. BSG, Urteile vom 03.11.1993 – 1 RK 42/92; vom 25.02.1981 – 5a/5 RKn 35/78, BSGE 51, 206; vom 10.11.1977 – 3 RK 7/77, BSGE 45, 133 []
  8. BSG, Urteile vom 18.05.2011 – B 3 KR 12/10 R; vom 07.05.2020 – B 3 KR 7/19 R; Beck/Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 33 SGB V, Rn. 20 []
  9. BSG, Urteil vom 03.11.1993 – 1 RK 42/92 []
  10. Gerlach, in: Hauck/Noftz, SGB V, Erg.-Lfg. 5/2018, § 33, Rn. 42 [] []
  11. BSG, Urteil vom 07.05.2020 – B 3 KR 7/19 R [] [] []
  12. BSG, Urteile vom 18.05.2011 – B 3 KR 12/10 R; vom 03.11.1999 – B 3 KR 16/99 R []
  13. BSG, Urteile vom 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R, BSGE 125, 189; vom 17.12.2009 – B 3 KR 20/08 R, BSGE 105, 170 []
  14. BSG, Urteil vom 25.06.2009 – B 3 KR 2/08 R [] []
  15. BSG, Urteile vom 25.06.2009 – B 3 KR 2/08 R; vom 16.09.2004 – B 3 KR 20/04 R, BSGE 93, 183 []
  16. BSG, Urteil vom 07.10.2010 – B 3 KR 13/09 R []
  17. BSG, Urteil vom 10.03.2011 – B 3 KR 9/10 R [] []
  18. BSG, Urteile vom 16.04.1998 – B 3 KR 6/97 R; vom 17.12.2009 – B 3 KR 20/08 R, BSGE 105, 170 []
  19. BSG, Urteile vom 16.09.2004 – B 3 KR 20/04 R, BSGE 93, 183; vom 23.07.2002 – B 3 KR 66/01 R []
  20. SG Bremen, Urteil vom 24.05.2016 – S 4 KR 153/15 []
  21. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 29.08.2017 – L 16/4 KR 65/12 []
  22. LSG, Beschluss vom 10.05.2012 – L 11 KR 804/11() hat dem Vortrag der Klägerin entsprechend nachvollziehbar ausgeführt:

    Demgegenüber ist ein Blindenführhund in der Lage, diese Nachteile auszugleichen. Er ermöglicht blinden Menschen „indirekte optische Fernwahrnehmung und damit eine selbstständige Mobilität in vertrauter und nicht vertrauter Umgebung“ (Riederle, „Der Blindenhund als primäre Mobilitätshilfe“, Zeitschrift „Behindertenrecht“, Juni 2005, Heft 4, S 97ff). Er ist in der Lage blinde Menschen „zügig, entspannt und zielsicher“ auch „in offenen Geländen, bei Schneedecke, durch Menschenansammlungen und an Baustellen vorbei“ zu führen (Riederle a. a. O.). Er kann beim Auffinden von Treppen, Aufzügen und Türen in Gebäuden helfen (SG Aachen 22.10.2007, S 21 KR 32/07, juris). Außerdem schützt er vor Hindernissen in Kopfhöhe, in dem er solche Hindernisse erkennt und sich querstellt, um dem Blinden zu signalisieren, dass hier ein großes Hindernis ist (SG Aachen 22.10.2007, S 21 KR 32/07, juris). Auch nach den schlüssigen und nachvollziehbaren Schilderungen des Blinden- und Sehbehindertenverbandes im Widerspruchsverfahren hat ein Blindenführhund entscheidende Vorteile gegenüber einem Blindenlangstock. Der Führhund kann sehen und einmal Gesehenes bei der nächsten Begegnung wieder erkennen. Er kann Hindernisse – auch Seiten- und Höhenhindernisse – erkennen, einschätzen und umgehen. Der Führhund ermöglicht eine sicherere Fortbewegung. Der blinde Mensch ist weniger angespannt, da die aufzubringende Konzentration nicht so hoch ist wie bei Benutzung eines Blindenlangstockes.

    46Diese Einschätzung teilt der Sachverständige, der Augenarzt Prof. Dr. X in seinem Gutachten vom 09.01.2021 in dem entschiedenen Fall. Der Sachverständige bestätigt einen deutlichen Gebrauchsvorteil eines Blindenführhundes, der in der Lage sei, Treppen, Aufzüge, Eingänge, Türen und Haltestellen etc. aufzufinden und anzuzeigen und somit eine große Entlastung in der Alltagsgestaltung- und vor allem einen deutlichen Sicherheitsaspekt darstelle. Insbesondere das Erkennen und Umgehen von Baustellen sei ein großes Problem, da dies gelegentlich das Verlassen des Bordsteines auf die ungesicherte Fahrbahn bedeute. Hier sei aus sachverständiger Sicht ein deutlicher Gebrauchsvorteil eines Blindenführhundes zu erkennen. Der Hund könne Hindernisse vor jeder körperlichen Berührung durch den Blinden erkennen, einschätzen und gezielt und sicher umgehen. Oftmals könne eine erblindete Person wie die Klägerin mit dem Langstock zwar ein Hindernis detektieren, im Gegensatz zu einem Blindenführhund aber keine Lösung aufzeigen, um das Hindernis sicher zu umgehen und vor allem danach wieder den korrekten und sicheren Laufweg einzuschlagen. Zudem könne ein Blindenführhund die ihm zuvor gezeigten Orte, etwa einen Supermarkt, eine Apotheke Bank o. ä. auf Befehl des Blindenhundeführers aufsuchen und auch den Weg, trotz unerwarteter Hindernisse, finden. Außerdem sei ein entsprechender Hund in der Lage dazu, Hindernisse, die über der Gürtellinie des Blindenhundeführers lägen (Schranken, Äste, Markisen etc.), frühzeitig zu erkennen, sicher zu umgehen und somit eine Kollision zu vermeiden. Insofern sei selbst ein Spaziergang durch den Blindenhund deutlich leichter und sicherer, als unter Verwendung eines Blindenlangstockes.

    Vor diesem Hintergrund ist die Äußerung der Beklagten, ihr seien die Unterschiede zwischen einem Blindenführhund unter Nutzung eines Blindenlangstockes bekannt, in Abrede zu stellen. Im selben Schriftsatz offenbart die Beklagte nämlich, dass ihr nicht bekannt ist, dass ein Blindenführhund eine gerade Linie halten kann und Höhenhindernisse erkennen und überwinden kann. Der Sachverständige ist dem ausdrücklich und substantiiert entgegengetreten. Soweit die Beklagte die Kompetenz eines Augenarztes zur Beurteilung der Fähigkeiten eines Blindenführhundes anzweifelt, kann das Sozialgericht Aachen dies nicht nachvollziehen zumal die Beklagte ihre Entscheidung auf ärztlichen Rat des MDK stützt, wobei nicht einmal eine augenärztliche Kompetenz erkennbar wird.

    Ungeachtet dessen werden die Gebrauchsvorteile eines Blindenführhundes zur Nutzung eines Blindenlangstockes gerade auch von der Orientierungs- und Mobilitätstrainerin der Klägerin bestätigt (vgl. „Bescheinigung über die Unterweisung im Umgang mit dem Langstock in Orientierung und Mobilität“, vorgelegt im Widerspruchsverfahren), die der MDK für seine Beurteilung (telefonisch) vom 31.07.2019 kontaktiert hatte. Dabei stellt es einen schweren methodischen Mangel des MDK-Gutachtens dar, dass der Inhalt des in Bezug genommenen Telefonates, u.a. auf das der MDK seine Beurteilung stützt, nicht einmal im Wesentlichen dokumentiert ist. Die Orientierungs- und Mobilitätstrainerin bestätigt, dass mit dem Einsatz eines Führhundes im Vergleich zum Einsatz eines Langstockes, selbst wenn dieser durch ein elektronisches Leitgeräte ergänzt werde, ein weit höherer Grad an Behinderungsausgleich erreicht werde und führt zur Begründung detailliert in Übereinstimmung mit der Beurteilung des Sachverständigen aus. Durch seine Fähigkeit, Hindernisse vor jeder körperlichen Berührung durch den Blinden oder hochgradig Sehbeeinträchtigten zu erkennen, einzuschätzen und zu umgehen sowie markante Punkte (Treppen, Türen, Verkehrsmittel) auf entsprechende Hörzeichen aufzusuchen und anzuzeigen, ermögliche der Führhund seinem Halter eine entspannte, sicherere und schnellere Fortbewegung als mit dem Langstock. Weiter könne sich der Führer und Halter auch im offenen unwegsamen Gelände, in einer Umgebung ohne Leitlinien oder bei Menschenansammlungen frei und sicher bewegen, was mit dem Langstock in der heutigen Zeit (Werbebanner, Außengastronomie, Mülleimer, Baustellen etc.) nur schwer oder gar nicht möglich sei. Der Führhund könne seinen Halter, noch bevor dieser an einen Gegenstand anstoße oder über eine Stufe stolpere, an dem Hindernis vorbei führen oder die Stufe durch Stehenbleiben anzeigen. Bei der Fahrbahnüberquerung sehe der Führhund auch von seinem Halter nicht zu hörende Fahrzeuge (Fahrräder, Elektroautos, Elektroscooter) und schütze ihn durch Stehenbleiben. Der Blindenführhund beachte auch seinem Halter gefährlich werdende Seiten – und Höhenhindernisse die durch einen Langstock nicht wahrgenommen werden könnten und umgehe diese.

    Der Einwand der Vertreterin der Beklagten in der mündlichen Verhandlung, auch ein Blindenführhund müsse die dargelegten Fertigkeiten erst erlernen, erschließt sich dem Sozialgericht Aachen nicht. Dies betrifft einen Aspekt der ordnungsgemäßen Versorgung im Rahmen der Auswahl des konkreten Hilfsmittels ((BSG, Urteil vom 20.11.1996 – 3 RK 5/96, BSGE 79, 261 []

  23. BSG, Urteil vom 16.09.1999 – B 3 KR 8/98 R []
  24. SG Aachen, Urteil vom 29.05.2007 – S 13 KR 99/06 []
  25. BSG, Urteil vom 20.11.2008 – B 3 KN 4/07 KR R, BSGE 102, 90 []

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