Der Bundesgerichtshof legt dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Fragen zum gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch vor. Hierbei geht es um Fragen der Haftung eines EU-Mitgliedsstaates für die nicht ordnungsgemäße Umsetzung von EU-Recht.
Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden gemäß Art. 234 EG folgende Fra-gen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
a) Verleihen die Bestimmungen des Art. 5 Abs. 1 Buchst. o und des Art. 6 Abs. 1 Buchst. b Ziffer iii der Richtlinie 64/433/EWG des Rates vom 26. Juni 1964 zur Regelung gesundheitlicher Fragen beim innergemeinschaftlichen Handelsverkehr mit frischem Fleisch in der Fassung der Richtlinie 91/497/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 (ABl.EG 1991 Nr. L 268 S. 69) in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1, Art. 7 und Art. 8 der Richtlinie 89/662/EWG des Rates vom 11. Dezember 1989 zur Regelung der veterinärrechtlichen Kontrollen im innergemeinschaftlichen Handel im Hinblick auf den gemeinsamen Binnenmarkt (ABl.EG 1989 Nr. L 395 S. 13) den Produzenten und Vermarktern von Schweinefleisch eine Rechtsposition, die bei Umsetzungs- oder Anwendungsfehlern einen gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch auslösen kann?
b) Können sich die Produzenten und Vermarkter von Schweinefleisch – unabhängig von der Beantwortung der ersten Frage – zur Begründung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs bei einer gegen das europäische Gemeinschaftsrecht verstoßenden Umsetzung und Anwendung der genannten Richtlinien auf eine Verletzung von Art. 30 EGV (= Art. 28 EG) berufen?
c) Verlangt das Gemeinschaftsrecht, dass die Verjährung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs im Hinblick auf ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EG unterbrochen oder ihr Lauf bis zu dessen Beendigung jedenfalls dann gehemmt wird, wenn es an einem effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelf fehlt, den Mitgliedstaat zur Umsetzung einer Richtlinie zu zwingen?
d) Beginnt die Verjährungsfrist für einen gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch, der auf die unzureichende Umsetzung einer Richtlinie und ein damit einhergehendes (faktisches) Importverbot gegründet ist, unabhängig von dem anwendbaren nationalen Recht erst mit deren vollständiger Umsetzung oder kann die Verjährungsfrist in Übereinstimmung mit dem nationalen Recht schon dann zu laufen beginnen, wenn erste Schadensfolgen bereits eingetreten und weitere Schadensfolgen absehbar sind? Sollte die vollständige Umsetzung den Verjährungsbeginn beeinflussen, gilt dies dann allgemein oder nur, wenn die Richtlinie dem Einzelnen ein Recht verleiht?
e) Bestehen unter dem Gesichtspunkt, dass die Mitgliedstaaten die schadensersatzrechtlichen Voraussetzungen für den gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch nicht ungünstiger ausgestalten dürfen als bei ähnlichen Klagen, die nur nationales Recht betreffen, und dass die Erlangung einer Entschädigung nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden darf, allgemein Bedenken gegen eine nationale Regelung, nach der die Ersatzpflicht nicht eintritt, wenn der Verletzte vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden? Bestehen auch dann Bedenken gegen diesen „Vorrang des Primärrechtsschutzes“, wenn er unter dem Vorbehalt steht, dass er dem Betroffenen zumutbar sein muss? Ist er bereits dann im Sinne des europäischen Gemeinschaftsrechts unzumutbar, wenn das angegangene Gericht die in Rede stehenden gemeinschaftsrechtlichen Fragen voraussichtlich nicht ohne Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften beantworten könnte oder wenn bereits ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EG anhängig ist?
Die Klägerin begehrt aus abgetretenem Recht dänischer Schweinezüchter und Schlachthofgesellschaften von der beklagten Bundesrepublik Deutschland Schadensersatz wegen der Verletzung europäischen Gemeinschaftsrechts. Gegenstand des Verfahrens ist der von der Klägerin erhobene Vorwurf, die Beklagte habe von Anfang 1993 bis 1999 entgegen dem geltenden Gemeinschaftsrecht faktisch ein Importverbot verhängt, das sich auf Fleisch von nicht kastrierten männlichen Schweinen aus Dänemark bezogen habe. Hierdurch sei den Schweinezüchtern und Schlachthofgesellschaften in der genannten Zeit ein Schaden von mindestens 280.000.000 DM entstanden.
Dem lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde. In Dänemark wurde Anfang der neunziger Jahre das ?Male-Pig-Projekt? zur Aufzucht nicht kastrierter männlicher Schweine ins Leben gerufen. Diese – nach der Behauptung der Klägerin wirtschaftlich vorteilhaftere – Aufzucht birgt die Gefahr, dass das Fleisch beim Erhitzen einen strengen Geruch bzw. Geschmack, den sog. Geschlechtsgeruch, aufweisen kann, wobei diese Gefahr mit zunehmendem Alter und Gewicht der Schweine zum Schlachtzeitpunkt zunimmt. Nach Auffassung der dänischen Forschung lässt sich diese Geruchsbelastung bereits beim Schlachtvorgang durch Prüfung des Skatolgehalts, eines im Darm gebildeten Abbauprodukts, feststellen und geruchsbelastetes Fleisch aussortieren. Nach Auffassung der deutschen Seite geht die Geruchsbelastung auf das Hormon Androstenon zurück, dessen Bildung durch eine frühe Kastration ausgeschaltet werden könne; der Skatolgehalt sei für sich allein betrachtet kein Maß für den Geschlechtsgeruch und seine Prüfung führe daher zu keinen zuverlässigen Ergebnissen.
Der gemeinschaftsrechtliche Rahmen sah wie folgt aus: Durch die Richtlinie des Rates vom 11. Dezember 1989 zur Regelung der veterinärrechtlichen Kontrollen im innergemeinschaftlichen Handel im Hinblick auf den gemeinsamen Binnenmarkt (89/662/EWG) wurde das bisherige System der Grenzkontrollen zugunsten einer durch den Versandmitgliedstaat durchzuführenden veterinärrechtlichen Kontrolle abgelöst; der zuständigen Behörde an den Bestimmungsorten sollte nur eine nichtdiskriminierende veterinärrechtliche Kontrolle im Stichprobenverfahren vorbehalten bleiben. In Art. 8 dieser Richtlinie ist ein Verfahren zur Regelung des Falls vorgesehen, dass die Übereinstimmung des Fleisches mit den geltenden gesundheitsrechtlichen Vorschriften von den zuständigen Behörden des Bestimmungs- und des Ursprungslands unterschiedlich beurteilt wird. In der Richtlinie 64/433/EWG des Rates vom 26. Juni 1964 über die gesundheitlichen Bedingungen für die Gewinnung und das Inverkehrbringen von frischem Fleisch, die durch die bis zum 1. Januar 1993 umzusetzende Richtlinie des Rates vom 29. Juli 1991 (91/497/EWG) neu gefasst worden ist, heißt es in Art. 5 Abs. 1 Buchst. o, dass die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass der amtliche Tierarzt Fleisch, das einen starken Geschlechtsgeruch aufweist, für genussuntauglich erklärt. Nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. b Ziffer iii tragen die Mitgliedstaaten Sorge dafür, dass Fleisch – unbeschadet der in Art. 5 Abs. 1 Buchst. o vorgesehenen Fälle – von nicht kastrierten männlichen Schweinen mit einem Tierkörpergewicht von mehr als 80 kg ein besonderes Kennzeichen trägt oder einer Hitzebehandlung unterzogen wird, außer wenn der Betrieb durch eine nach dem Verfahren des Art. 16 anerkannte bzw. – wenn kein entsprechender Beschluss gefasst worden ist – durch eine von den zuständigen Behörden anerkannte Methode sicherstellen kann, dass Schlachtkörper mit einem starken Geschlechtsgeruch festgestellt werden können.
Die Beklagte teilte den obersten Veterinärbehörden der Mitgliedstaaten durch den Bundesminister für Gesundheit im Januar 1993 mit, die Regelung in Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 64/633/EWG werde in der Weise in nationales deutsches Recht umgesetzt, dass unabhängig von der Gewichtsgrenze ein Wert von 0,5 ?g/g Androstenon festgesetzt werde. Bei Überschreitung dieses Wertes weise das Fleisch einen starken Geschlechtsgeruch auf und sei nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. o untauglich zum Genuss für Menschen. Als Methode zum Nachweis des Androstenons werde nur der modifizierte Immunoenzymtest nach Prof. Claus als spezifisch anerkannt. Das Fleisch männlicher, nicht kastrierter Schweine, bei dem dieser Wert überschritten werde, dürfe nicht als frisches Fleisch in die Bundesrepublik Deutschland verbracht werden. Weiter heißt es in dem Schreiben, im Einvernehmen mit der EG-Kommission und dem Rat (s. Protokollerklärung zu Art. 6 Abs. 1 Buchst. b) bei Beschluss der Richtlinie 91/497/EWG werde für alle Sendungen von Schweinefleisch aus anderen Mitgliedstaaten Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 89/622/EWG angewandt. Schweinefleischsendungen würden am Bestimmungsort, unabhängig von ihrer Genusstauglichkeitskennzeichnung, auf die Einhaltung des Grenzwertes überprüft und bei Überschreitung des Wertes beanstandet.
Nachdem die Beklagte und die Kommission keine Einigung über die Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Normen finden konnten, stellte der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften auf die von der Kommission im Jahr 1996 erhobene Vertragsverletzungsklage durch Urteil vom 12. November 1998 (Rs. C-102/96) einen Verstoß der Beklagten gegen die genannten Richtlinienbestimmungen fest.
Die Klägerin hat den geltend gemachten Schadensersatzanspruch auf die Behauptung gestützt, die dänischen Schweinezüchter und Schlachthofgesellschaften hätten im Hinblick auf das gemeinschaftswidrige Verhalten der Beklagten zunächst die Produktion nicht kastrierter männlicher Schweine vermindert und im Oktober 1993 nahezu vollständig eingestellt. Um den Export von Schweinefleisch nach Deutschland nicht zu gefährden, seien männliche Schweine in dem notwendigen Umfang kastriert aufgezogen worden. In der Zeit von 1993 bis 1999 seien etwa 39 Millionen kastriert aufgezogene Schweine für die Vermarktung in Deutschland geschlachtet worden. Bei der Vermarktung einer entsprechenden Menge unkastrierter männlicher Schweine hätten sich für sie Kosteneinsparungen von mindestens 280.000.000 DM ergeben.
Beide Vorinstanzen haben die Beklagte dem Grunde nach für verpflichtet gehalten, der Klägerin den erlittenen Schaden zu ersetzen. Das Landgericht hat die Klage im Hinblick auf die Beantragung eines Mahnbescheids am 6. Dezember 1999 allerdings insoweit als verjährt abgewiesen, als es um Ersatzansprüche für Schäden geht, die bis zum 6. Dezember 1996 entstanden sind. Demgegenüber hat das Berufungsgericht die Ansprüche insgesamt für unverjährt angesehen. Die Beklagte hat die zugelassene Revision eingelegt.
Der unter anderem für Staatshaftungsansprüche zuständige III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat das Revisionsverfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Fragen zum Grund sowie zur Verjährung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs sowie zum Vorrang des Primärrechtsschutzes vorgelegt. Der Senat möchte vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften wissen, ob den dänischen Schweinezüchtern und Schlachthofgesellschaften durch die genannten Richtlinien Rechte verliehen worden sind, deren Verletzung einen gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch auslösen kann, oder ob sie sich unmittelbar auf eine Verletzung der Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 EG; früher Art. 30 EG-Vertrag) berufen können, falls dies zu verneinen sein sollte. Ferner strebt der Senat vor dem Hintergrund der nationalen Rechtslage, nach der der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch wie der Amtshaftungsanspruch in drei Jahren verjährt, eine Klärung der Frage an, ob die Verjährung im Hinblick auf ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem Gerichtshof unterbrochen oder ihr Lauf bis zu dessen Beendigung gehemmt wird, wenn es an einem effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelf fehlt, den Mitgliedstaat zur Umsetzung einer Richtlinie zu zwingen. Weiter möchte er wissen, ob die Verjährungsfrist für einen gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch, der auf die unzureichende Umsetzung einer Richtlinie und auf ein damit einhergehendes Importverbot gegründet ist, erst mit deren vollständiger Umsetzung zu laufen beginnt oder ob die Frist ? in Übereinstimmung mit dem nationalen Recht ? schon dann zu laufen beginnen kann, wenn erste Schadensfolgen bereits eingetreten und weitere Schadensfolgen absehbar sind. Schließlich möchte der Senat dem Gerichtshof Gelegenheit geben, seine Rechtsprechung zum Einfluss des Vorrangs des Primärrechtsschutzes auf den gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch zu verdeutlichen. Dabei geht es insbesondere um die Frage, ob ein Geschädigter zur Meidung eines Anspruchsverlusts eine bestehende und ihm zumutbare Möglichkeit des Primärrechtsschutzes grundsätzlich wahrnehmen und sich auf die Wirkungen des Gemeinschaftsrecht berufen muss, oder ob er hiervon absehen darf, wenn der nationale Richter die gemeinschaftsrechtliche Frage voraussichtlich nicht ohne Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften beantworten kann oder wenn bereits ein Vertragsverletzungsverfahren anhängig ist.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12. Oktober 2006 – III ZR 144/05