Betriebsgeheimnisse vor Gericht

Es verstößt gegen die durch Art. 12 Abs. 1 GG garantierte Berufsfreiheit, wenn die Gerichte in einem gesetzlich dafür vorgesehenen gesonderten verwaltungsgerichtlichen Verfahren (Zwischenverfahren) zur Überprüfung der Geheimhaltungswürdigkeit von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen ein entsprechendes Schutzinteresse nur anerkennen, soweit existenzbedrohende oder nachhaltige Nachteile aus einer Offenbarung der Informationen an Wettbewerber zu befürchten sind. Dies entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts auf eine Verfassungsbeschwerde hin, die das Spannungsfeld von umfassender gerichtlicher Aufklärung einerseits und der Offenlegung von Betriebs und Geschäftsgeheimnissen gegenüber den am Verfahren Beteiligten andererseits betrifft.

Die Beschwerdeführerin – die Deutsche Telekom AG – ist ein Telekommunikationsunternehmen, das ein bundesweites Telekommunikationsnetz in einer marktbeherrschenden Stellung betreibt.
Nach dem Telekommunikationsgesetz ist sie verpflichtet, anderen Nutzern Zugang zu ihrem Telekommunikationsnetz gegen ein Entgelt zu ermöglichen. Die Festsetzung des Entgelts bedarf der Genehmigung der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post (jetzt
Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation und Eisenbahnen). In dem Genehmigungsverfahren muss die Beschwerdeführerin betriebswirtschaftliche Unterlagen vorlegen, insbesondere detaillierte und umfassende Nachweise ihrer Kosten.

Vorliegend haben mehrere Nutzer des Telekommunikationsnetzes, die zugleich Wettbewerber der Beschwerdeführerin sind, den Bescheid der Behörde, mit dem diese das Entgelt für den Zugang zur Teilnehmeranschlussleitung genehmigt hatte, vor dem Verwaltungsgericht angegriffen. Im Rahmen dieses gerichtlichen Verfahrens begehren sie Einsicht in die Genehmigungsunterlagen. Nachdem das Verwaltungsgericht bei der Genehmigungsbehörde die Unterlagen angefordert hatte, entschied diese, dass zahlreiche Seiten aus den Verwaltungsvorgängen nicht und weitere Seiten nur in teilweise geschwärzter Fassung offen gelegt werden dürften.

Gegen die Verweigerung der vollständigen Vorlage der Akten stellten die Wettbewerber beim Oberverwaltungsgericht einen Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit. Gegenstand dieses Zwischenverfahrens gem. § 99 Abs. 2 VwGO ist allein die Überprüfung der Entscheidung der Genehmigungsbehörde, die Akten oder Urkunden aus Gründen überwiegenden Geheimnisschutzes nicht herauszugeben oder Auskünfte nicht zu erteilen. Diese Konzeption des „in camera“-Verfahrens hat bei Feststellung der Rechtmäßigkeit der Verweigerung der Aktenvorlage zur Folge, dass der Inhalt der betreffenden Unterlagen im Hauptsacheverfahren nicht verwertet werden darf. Das Oberverwaltungsgericht gab den Anträgen der Wettbewerber nur teilweise statt. Das Bundesverwaltungsgericht hingegen stellte fest, dass die Verweigerung der vollständigen Vorlage der Verwaltungsakten rechtswidrig sei. Die gegen die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerden der Telekom AG hatten Erfolg.

Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Die angegriffenen Entscheidungen greifen in die Berufsfreiheit der Beschwerdeführerin ein. Durch die Verpflichtung der Beschwerdeführerin, dem Gericht sämtliche Akten umfassend und ohne Schwärzungen offen zu legen, erhalten die an den Ausgangsverfahren beteiligten Wettbewerber der Beschwerdeführerin die Möglichkeit, im Rahmen ihres Akteneinsichtsrechts Kenntnis von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen der Beschwerdeführerin zu erlangen. Dieser Grundrechtseingriff ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.

1.
Im Zuge der Entgeltgenehmigung ist eine Konfliktlage in einem mehrpoligen Rechtsverhältnis zu bewältigen, an dem der Staat in Gestalt der Genehmigungsbehörde, die Wettbewerber als potentiell zur Entgeltzahlung Verpflichtete mit ihrem Interesse an effektivem Rechtsschutz bei der Überprüfung der Entgelthöhe und die Beschwerdeführerin als Trägerin der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse beteiligt sind.

Die Ermächtigung in § 99 Abs. 2 VwGO zu Zwischenentscheidungen über die Aktenvorlage dient der Verwirklichung des Ziels, effektiven Rechtsschutz durch Aufklärung des Sachverhalts und Gewährung rechtlichen Gehörs in dem gerichtlichen Hauptsacheverfahren zu ermöglichen, aber zugleich dem grundrechtlichen Schutz der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse Rechnung zu tragen. Die Regelung lässt zu, dass die Zwischenentscheidung zu dem Ergebnis führt, die Berufsfreiheit des Geheimnisträgers vollständig zurücktreten zu lassen, aber eventuell auch zu dem gegenläufigen Ergebnis gelangt, dass die Geheimnisse geschützt werden und damit die entsprechenden Grundlagen für die Berechnung des Entgelts bei der gerichtlichen Überprüfung der Richtigkeit der Entgeltfestsetzung nicht herangezogen werden können. Je nach der Beweislastverteilung hinsichtlich der Entgeltkontrolle kann dies die Markbeherrscherin oder ihre Wettbewerber benachteiligen. Der Gesetzgeber hat keinen Lösungsweg bereitgestellt, der stets eine Verwirklichung der gegenläufigen Interessen in dem mehrpoligen Rechtsverhältnis sichert. Die Entscheidung ergeht immer nur entweder zu Lasten des effektiven Rechtsschutzes oder zu Lasten des Geheimhaltungsinteresses. Dies genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nur, wenn die mit der Rechtsanwendung betrauten Organe auf der Grundlage des geltenden Rechts die Möglichkeit haben, zu einer der Verfassung entsprechenden Zuordnung der kollidierenden Rechtsgüter zu kommen.

2.
Für die zu treffende Abwägungsentscheidung gibt das Gesetz keinen Maßstab vor. Das Bundesverwaltungsgericht hat als Maßstab den der existenzbedrohenden oder nachhaltigen Nachteile zugrunde gelegt. Dieser Maßstab genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen jedoch nicht. Soweit es an bestimmten Abwägungskriterien fehlt, leistet die Darstellung der die Abwägung leitenden Gesichtspunkte in der gerichtlichen Entscheidung einen wesentlichen Beitrag zur Konkretisierung des Abwägungsprogramms, zur Rationalisierung des Abwägungsvorgangs und zur Sicherung der Richtigkeit des Entscheidungsergebnisses. Dem werden die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht gerecht.

Nach den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts ist bei der Abwägung im Rahmen der Zwischenentscheidung (§ 99 Abs. 2 VwGO) zu berücksichtigen, dass die behördliche Festsetzung der Entgelte sowohl im Interesse aller Beteiligten als auch im öffentlichen Interesse gerichtlich zu überprüfen ist, so dass dem Gericht (der Hauptsache) die dafür erforderlichen Unterlagen grundsätzlich verfügbar sein müssen. Nach diesen Erwägungen ist die Vorlage sämtlicher Unterlagen die gesetzlich gewollte Regel, die Verweigerung wegen des Geheimnisschutzes eine begründungsbedürftige Ausnahme. Das Bundesverwaltungsgericht geht dementsprechend davon aus, dass der Schutz der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der Marktbeherrscherin grundsätzlich zurückzutreten habe. Eine Ausnahme von der grundsätzlichen Offenlegungspflicht soll nur dann gelten, wenn nachhaltige oder gar existenzbedrohende Nachteile für das marktmächtige Unternehmen zu besorgen sind.

Der Gesetzgeber hat den Gerichten nicht die Möglichkeit eröffnet, Geheimnisschutz und effektiven Rechtsschutz auf andere Weise als durch eine Abwägungsentscheidung einander zuzuordnen, die dazu führt, dass nur einem der betroffenen Rechtsgüter Schutz gewährt werden kann. Zwar könnte das von der Beschwerdeführerin angeregte „in camera“-Verfahren in der Hauptsache, bei dem die Kenntnisnahme des geheimhaltungsbedürftigen Teils der Unterlagen auf das Gericht beschränkt bliebe, den Schutz der Berufsgeheimnisse vollständig sichern und würde ebenfalls eine gerichtliche Überprüfung der Entgeltfestsetzung anhand aller Unterlagen ermöglichen. Ob ein „in camera“-Verfahren in der Hauptsache in dem hier betroffenen multipolaren Rechtsgüterkonflikt eine angemessene Kollisionsbewältigung bewirken könnte, braucht vorliegend jedoch nicht entschieden zu werden; denn der Gesetzgeber hat dafür keine Ermächtigung geschaffen, sondern das „in camera“-Verfahren auf das Zwischenverfahren begrenzt.

Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass auf der Grundlage der bestehenden verwaltungsgerichtlichen Vorschriften praktische Konkordanz zwischen den kollidierenden Rechtsgütern durch Abwägung hergestellt werden kann. Ist beispielsweise das Geheimhaltungsinteresse ohne erhebliches Gewicht, wird es gerechtfertigt sein, es hinter das Interesse an effektivem Rechtsschutz zurücktreten zu lassen. Daher bedarf es stets zunächst einer Abwägung, ob Geheimnisschutz auch angesichts des Interesses an effektivem Rechtsschutz, insbesondere an rechtlichem Gehör, zu gewähren ist. Ob vorliegend eine Bewältigung des Interessenkonflikts durch Abwägung erreicht werden kann, lässt sich auf der Grundlage der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts aber nicht beurteilen. Denn das Bundesverwaltungsgericht hat die Abwägung nicht in einer verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Weise vorgenommen:

Eine Abwägungsregel hat zu berücksichtigen, dass die Entgeltgenehmigung sich an den Kosten der effizienten Bereitstellung des Netzzugangs orientieren muss. Die Genehmigung soll sichern, dass die Beschwerdeführerin keine höheren Entgelte erhebt, als durch diese Kosten gerechtfertigt ist. Die Entgeltkontrolle ist kein Mittel, um Wettbewerbern auf dem Telekommunikationsmarkt Vorteile im Kampf gegen den bisherigen Marktbeherrscher durch Zugang zu geheimhaltungsbedürftigen Unterlagen einzuräumen. Der grundsätzliche Erhalt von Geheimnisschutz entspricht auch den in der Verwaltungsgerichtsordnung (§ 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO) niedergelegten Vorkehrungen über die Verweigerung der Einsicht in Vorgänge, die „ihrem Wesen nach geheimgehalten werden müssen“.

Auf die Außerachtlassung dieses Grundsatzes aber läuft die vom Bundesverwaltungsgericht zugrunde gelegte Abwägungsregel hinaus, wonach eine Ausnahme von der grundsätzlichen Offenlegungspflicht nur dann gelten soll, wenn nachhaltige oder gar existenzbedrohende Nachteile für das marktmächtige Unternehmen zu besorgen sind. Das hierdurch bewirkte grundsätzliche Zurücktreten des Geheimnisschutzes ist nicht Ergebnis einer angemessenen Zuordnung der kollidierenden Rechtsgüter zueinander. Es ist schwer vorstellbar, dass die Offenlegung eines Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisses aus Anlass der Genehmigung eines Entgelts für den Netzzugang ein marktstarkes oder gar marktbeherrschendes Unternehmen in existentielle Gefahr bringen kann. Zum Begriff der Nachhaltigkeit führt das Bundesverwaltungsgericht nicht näher aus, wie es diesen Begriff versteht. Im Übrigen leidet sowohl der Maßstab der nachhaltigen als auch der der existenzbedrohenden Benachteiligung daran, dass er eine differenzierende Abwägung unter Berücksichtigung der möglichen, eventuell nur geringfügigen, Nachteile an effektivem Rechtsschutz für die Wettbewerber nicht vorsieht.

Die angegriffenen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts enthalten auch keine nachvollziehbaren Ausführungen zur Abwägung der kollidierenden Rechtsgüter. Das Gericht hat lediglich ausgeführt, es habe sich durch Akteneinsicht „in camera“ davon überzeugt, dass ein nachhaltiger Nachteil für die Beschwerdeführerin nicht zu erwarten sei. Das „in camera“-Verfahren entbindet das Gericht jedoch nicht von der Pflicht, diemaßgebenden Erwägungen nachvollziehbar darzulegen. In der Regel dürfte es möglich sein, die Entscheidung des Gerichts mit Gründen zu versehen, ohne die konkreten Geheimnisse wiederzugeben, sie aber nach Typ und Art der betroffenen Daten insoweit zu behandeln, dass jedenfalls das Abwägungsprogramm und die Plausibilität des Abwägungsergebnisses erkennbar werden.

Da das Bundesverwaltungsgericht die seine Abwägung bestimmenden Gesichtspunkte nicht erläutert, kann nicht festgestellt werden, dass sie zu einer angemessenen Zuordnung der Interessen am Rechtsschutz einerseits und am Geheimnisschutz andererseits führt. Ist aber schon der Maßstab der Angemessenheit nicht beachtet worden, kann die Beschränkung der Berufsfreiheit nicht verhältnismäßig sein. Der Eingriff ist daher nicht gerechtfertigt.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 14. März 2006 – 1 BvR 2087/03, 1 BvR 2111/03

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