Erneut hatte der Bundesgerichtshof, wie schon so oft hier geschehen, in einer Arzthaftungssache zu dem Thema der Beweislastumkehr bei einem groben ärztlichen Behandlungsfehler zu entscheiden.
Der Bundesgerichtshof hatte nunmehr über einen Fall zu entscheiden, in dem die Klägerin, bei der der Gynäkologe Dr. B. haftpflichtversichert war, aus übergegangenem Recht gegenüber dem Beklagten als Insolvenzverwalter über das Vermögen der Belegklinik Dr. Bo. GmbH den gesamtschuldnerischen Ausgleichsanspruch geltend machte.
Im Rahmen dieses Regreßprozesses fasste der Bundesgerichtshof den Sachverhalt wie folgt zusammen:
Am 8. August 1997 wurde die Schwangere N. A. von Dr. B. in die ge-burtshilfliche Abteilung der Belegklinik der Insolvenzschuldnerin wegen prätibia-ler Ödeme eingewiesen. Am 9. August 1997 gegen 4.00 Uhr morgens hatte N. A. einen Blasensprung. Gegen 9.15 Uhr legte die Hebamme E. einen Wehentropf an und kontrollierte die kindliche Herzfrequenz mittels eines CTG. Da die Herzfrequenz schon kurz nach Beginn der Aufzeichnungen bei 200 s/min. lag, verabreichte die Hebamme gegen 9.45 Uhr der Schwangeren Isoptin. Daraufhin sank die Frequenz auf 165 s/min. bis kurz vor 10.00 Uhr und bis 11.00 Uhr auf etwas unter 160 s/min. Dr. B. untersuchte die Schwangere gegen 11.00 Uhr. Dabei sah er die CTG-Kurve nicht ein. Ohne weitere medizinische Maßnahmen zu veranlassen, verließ er die Klinik. Um die Mittagszeit begann N. A. aus der Scheide zu bluten. Da die Herztöne des Kindes gegen 13.15 Uhr auf 70 s/min. absanken, rief die Hebamme E. um 14.15 Uhr Dr. B. an, der um 14.20 Uhr eine sofortige Kaiserschnittentbindung anordnete. Um 14.25 Uhr verständigte E. den Anästhesisten N., der gegen 15.00 Uhr im Krankenhaus eintraf. Die Narkose zur Durchführung der Notsectio wurde um 15.20 Uhr eingeleitet. Um 15.24 Uhr erfolgte die Geburt des Mädchens H. A., das als Folge einer geburtsassoziierten hypoxisch-ischämischen Hirnschädigung unter einem schweren psycho-neurologischen Restschadensyndrom leidet. Es besteht ein fokales cerebrales Anfallsleiden. H. A. kann weder allein essen noch trinken und muss über eine Sonde ernährt werden. Die Mutter N. A. musste wegen einer Uterusruptur und der Folgen einer vorzeitigen Plazentaablösung in die Frauenklinik in W. verlegt werden, wo die Gebärmutter entfernt werden musste.
Die Insolvenzschuldnerin hatte im Rahmen des Belegarztvertrages mit Dr. N. vereinbart, dass er wegen der räumlichen Entfernung zu seinem Wohnort während der Bereitschaftszeit innerhalb von 45 Minuten nach Alarmierung in der Klinik eintreffen müsse. Dr. B. kannte die Vereinbarung. Er erklärte sich am 23. Januar 1995 trotzdem damit einverstanden, dass Dr. N. als Facharzt für Anästhesie die gesamte operative und postoperative anästhesiologische Betreuung seiner Patienten in der Belegklinik der Insolvenzschuldnerin auf Dauer übernimmt.
N. A. und H. A. haben Dr. B. und die Insolvenzschuldnerin auf materiel-len Schadensersatz und Zahlung eines Schmerzensgeldes in Anspruch genommen (Az.: 4 O 2113/00 Landgericht Braunschweig). Die Klage gegen die Insolvenzschuldnerin hat das Landgericht durch rechtskräftig gewordenes Teil-Urteil vom 5. Juli 2001 abgewiesen. Danach ist die Insolvenzschuldnerin nach Streitverkündung dem Rechtsstreit gegen Dr. B. beigetreten. Mit Grundurteil vom 13. Juni 2002 hat das Landgericht die Klage gegen Dr. B. dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Das Oberlandesgericht Braunschweig hat mit Urteil vom 16. Januar 2003 (Az.: 1 U 70/02) die Berufung gegen die Verurteilung zur Zahlung von Schmerzensgeld an H. A. zurückgewiesen und festgestellt, dass Dr. B. verpflichtet ist, ihr sämtliche künftigen materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind oder übergehen. Am 24. Mai 2005 haben die Parteien einen Vergleich gemäß § 278 Abs. 6 ZPO abgeschlossen, aufgrund dessen Dr. B. u. a. ein Schmerzensgeld von 500.000 € an H. A. zu zahlen hat.
Im Streitfall hat das Landgericht der Klage auf Ausgleich der von der Klägerin erbrachten Zahlungen teilweise stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberlandesgericht das Urteil des Landgerichts teilweise abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Die Anschlussberufung, mit der die Klägerin Ersatz von Rechtsverfolgungskosten begehrt hat, hat es zurück-gewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
In den Entscheidungsgründen führte der Bundesgerichtshof sodann aus:
Das Berufungsgericht verneint einen Anspruch auf Gesamtschuldnerausgleich für die Klägerin, weil nicht erwiesen sei, dass das späte Eintreffen des Anästhesisten Dr. N. in der Belegklinik der Insolvenzschuldnerin schadensursächlich geworden sei. Der Senat neige zwar dazu, einen groben Organisationsfehler der Insolvenzschuldnerin anzunehmen. Nach dem medizinischen Standard sei nämlich bei einer Notsectio die Einhaltung einer Zeit von 20 bis 30 Minuten zwischen der Entscheidung zur sectio bis zur Entbindung (E-E-Zeit) erforderlich. Bei der vereinbarten Anreisezeit von maximal 45 Minuten für den Anästhesisten werde dieser Zeitraum nicht eingehalten. Beweiser-leichterungen wegen eines groben Behandlungsfehlers fänden für den Anspruch auf selbständigen Gesamtschuldnerausgleich nach § 426 Abs. 1 BGB zwischen grob fehlerhaft handelnden Personen oder Einrichtungen jedoch keine Anwendung. Die Figur des groben Behandlungsfehlers sei entwickelt worden, um zur Waffengleichheit zwischen Patient und Arzt im Arzthaftungsprozess beizutragen. Sie sei keine Sanktion für ärztliches Behandlungsverschulden, sondern diene der Ausgleichung der durch den groben Behandlungsfehler zu Lasten des Patienten verschlechterten Beweissituation. Im Streitfall komme hinzu, dass der Versicherungsnehmer der Klägerin, Dr. B., aufgrund der groben Fehlerhaftigkeit der Behandlung und der Unterlassung der möglichen weitergehen-den Befunderhebungen und Dokumentationen die Beweissituation zur Frage der Schadenskausalität und für die Abgrenzung etwaiger Verursachungsbeiträge verschlechtert habe. Es spreche viel dafür, dass bei der Abwägung der beid-seitigen Verschuldens- und Verursachungsanteile (§ 254 BGB) die Mitverantwortung der Insolvenzschuldnerin hinter dem überwiegenden Verschulden des Dr. B. zurücktrete. Dr. B. habe die Gebärende trotz erkennbarer schwerster Komplikationen letztlich sich selbst überlassen. Ein schwerer Behandlungsfeh-ler sei schon darin zu sehen, dass Dr. B. aufgrund der Nachlässigkeit bei der Visite die absolut kontraindizierte Gabe von Isoptin durch die Hebamme nicht bemerkt habe. Zusätzlich zu den bereits festgestellten Fehlern sei auch noch zu berücksichtigen, dass der Schwangeren am Vortag bei der Aufnahme kontraindikativ das Medikament Lasix verabreicht worden sei.
Soweit die Klägerin ihren Anspruch nach § 426 Abs. 2 BGB i.V.m. § 67 VVG a.F. auf den übergegangenen Anspruch der Geschädigten gegen die Insolvenzschuldnerin stütze, müsse sie die rechtskräftige Abweisung der Klage durch Teilurteil des Landgerichts B. vom 5. Juli 2001 – 4 O 2113/00 – gegen sich gelten lassen. Das Klagebegehren und der zugrunde liegende Lebenssachverhalt seien identisch mit dem des rechtskräftig entschiedenen Vorprozesses.
Zur Klärung der Frage, ob der Grundsatz der Beweiserleichterung aufgrund eines groben ärztlichen Behandlungsfehlers auch auf den selbständigen Anspruch auf Gesamtschuldnerausgleich (§ 426 Abs. 1 BGB) zugunsten eines Behandlers Anwendung findet, der einen der Behandlungsseite zuzuordnenden Mitschädiger in Anspruch nimmt, hat das Berufungsgericht die Revision zuge-lassen.
Die Revision der Klägerin bleibt erfolglos.
Für den ausgleichsberechtigten Gesamtschuldner sind in der Regel drei Anspruchsgrundlagen in Betracht zu ziehen, zum einen der Regressanspruch aus § 426 Abs. 1 Satz 1 BGB, der gleichzeitig mit der Gesamtschuld entsteht, zum andern der zur Bestärkung des Regressrechts des Ausgleichsberechtigten kraft Gesetzes übergehende Anspruch des Gläubigers gegen die anderen Gesamtschuldner nach § 426 Abs. 2 BGB und des Weiteren außerhalb der Gesamtschuld stehende vertragliche oder gesetzliche Ansprüche z.B. aus Geschäftsführung ohne Auftrag oder Bereicherung zwischen dem ausgleichs-berechtigten und den anderen Gesamtschuldnern. Diese Ansprüche können in Anspruchskonkurrenz zu § 426 Abs. 1 BGB und dem gemäß § 426 Abs. 2 BGB übergegangenen Anspruch eine dritte Anspruchsgrundlage bilden, ihnen kommt vor allem die Wirkung zu, das Maß der offenen Regel des § 426 Abs. 1 Satz 1 BGB abweichend von der kopfteiligen Haftung zu bestimmen. Der gemäß § 426 Abs. 2 BGB übergegangene Anspruch und der selbständige Regressanspruch aus § 426 Abs. 1 BGB wie auch der unter Umständen hinzutretende dritte Anspruch aus eigenem Recht sind selbständige Ansprüche, die auf unterschiedlichen Rechtsgründen beruhen, verschiedene Voraussetzungen haben und in Anspruchskonkurrenz zueinander stehen (vgl. BGHZ 59, 97, 102 f.). Unabhängig davon können sich die konkurrierenden Regressansprüche gegenseitig beeinflussen. So wird zwar in der Regel der Anspruch aus § 426 Abs. 1 BGB von den Einreden und Ein-wendungen gegen den übergegangenen Anspruch nicht berührt. Jedoch geht der Anspruch aus fremdem Recht nur insoweit über als der Ausgleichsberechtigte gemäß § 426 Abs. 1 Satz 1 Regress verlangen kann, womit die Höhe der Ansprüche aneinander angepasst wird.
a) Außerhalb der Gesamtschuld stehende vertragliche oder gesetzliche Ansprüche gegen die Insolvenzschuldnerin werden von der Klägerin nicht gel-tend gemacht und sind ersichtlich nicht gegeben.
b) Der Streitfall wirft auch nicht die Frage auf, ob die für den Patienten geltenden Beweiserleichterungen bei Geltendmachung eines übergeleiteten Anspruchs im Gesamtschuldnerausgleich nach § 426 Abs. 2 BGB Anwendung finden. Da die Klage der Geschädigten gegen die Insolvenzschuldnerin durch das rechtskräftige Teilurteil des Landgerichts Braunschweig vom 5. Juli 2001 (Az.: 4 O 2113/00) abgewiesen worden ist, kann die Klägerin wegen der Rechtskraftwirkung nach § 325 Abs. 1 ZPO einen übergeleiteten Anspruch gegen die Insolvenzschuldnerin nicht gel-tend machen. Dies stellt die Revision nicht in Frage. Dagegen ist rechtlich auch nichts zu erinnern.
c) Hier ist nicht zu entscheiden, ob die für die Arzthaftung anerkannte Umkehrung der Beweislast bei grobem Behandlungsfehler bei dem Gesamt-schuldnerausgleich unter Entschädigern Platz greift. Unter den besonderen Umständen des Streitfalls hat das Berufungsgericht im Ergebnis mit Recht auch für den Ausgleichsanspruch nach § 426 Abs. 1 BGB die Beweislastumkehr zu Gunsten der Klägerin für die Schadensursächlichkeit eines groben Organisationsverschuldens der Insolvenzschuldnerin verneint. Die vom Berufungsgericht offen gelassene Frage, ob die Organisation des Bereitschaftsdienstes des Anästhesisten durch die Insolvenzschuldnerin grob fehlerhaft gewesen ist, be-darf deshalb keiner weiteren Klärung.
aa) Die beweisrechtlichen Konsequenzen aus einem grob fehlerhaften Behandlungsgeschehen folgen nicht – wie die Revision insoweit in Überein-stimmung mit dem Berufungsgericht fälschlich meint – aus dem Gebot der prozessrechtlichen Waffengleichheit. Sie knüpfen vielmehr daran an, dass die nachträgliche Aufklärbarkeit des tatsächlichen Behandlungsgeschehens wegen des besonderen Gewichts des Behandlungsfeh-lers und seiner Bedeutung für die Behandlung in einer Weise erschwert ist, dass der Arzt nach Treu und Glauben – also aus Billigkeitsgründen – dem Patienten den vollen Kausalitätsnachweis nicht zumuten kann. Die Beweislastum-kehr soll einen Ausgleich dafür bieten, dass das Spektrum der für die Schädi-gung in Betracht kommenden Ursachen gerade durch den Fehler besonders verbreitert oder verschoben worden ist. Unter dem Gesichtspunkt der gleichmäßigen Beweislastri-sikoverteilung kann ferner die Mitverursachung von Unklarheiten in der Ursachenaufklärung durch den Patienten wegen der damit verbundenen Erschwe-rung der Aufklärung des Behandlungsgeschehens sogar die Beweislastumkehr wegen des groben Behandlungsfehlers ausschließen. Voraussetzung ist, dass der Patient durch sein Verhalten eine selbständige Komponente für den Hei-lungserfolg vereitelt und dadurch in gleicher Weise wie der grobe Behandlungs-fehler des Arztes dazu beigetragen hat, dass der Verlauf des Behandlungsgeschehens nicht mehr aufgeklärt werden kann. Bei der Frage der Beweislastumkehr im Rechtsstreit über den Gesamtschuldnerausgleich sind im Verhältnis zwischen mehreren Mitschädigern diese Gesichtspunkte in gleicher Weise maßgebend.
bb) Nach diesen Grundsätzen kann der Klägerin eine Beweislastumkehr nicht zugute kommen. Hätte nämlich Dr. B. die für ihn gebotenen Maßnahmen durchgeführt, wäre die Verzögerung der sectio durch die lange Anreise des Anästhesisten nicht ursächlich geworden. Dr. B. war die Vereinbarung zwischen dem Anästhesisten Dr. N. und der Insolvenzschuldnerin bekannt, ihn traf vorderhand die persönliche Verantwortung für die Patientin N. A., die er in das Krankenhaus eingewiesen hatte. Er hätte bei seiner Visite um 11.00 Uhr das CTG einsehen müssen, dessen Inhalt ihm Veranlassung gegeben hätte, die Hebamme zu den näheren Umständen zu befragen. Hierbei wäre ihm die fehlerhafte Verabreichung von Isoptin, die geeignet war, einen eventuell bedenklichen Zustand des Kindes zu verschleiern, mitgeteilt worden. Keinesfalls durfte Dr. B. die Gebärende trotz erkennbarer schwerster Komplikationen sich selbst überlassen. Da unstreitig die technischen Voraussetzungen für eine Mikroblutuntersuchung der Schwangeren in der Klinik der Streithelferin nicht gegeben waren, hätte die Geburt durch eine Schnittentbindung sofort beendet werden müssen. Dass eine Schnittentbindung zu diesem Zeitpunkt die hypoxische Schädigung des Kindes selbst dann verhindert hätte, wenn die Zeit zwischen der Entscheidung zur Entbindung bis zu deren Durchführung tatsächlich 64 Minuten gedauert hätte, wird auch von der Klägerin nicht in Zweifel gezogen.
Im Rechtsstreit der Geschädigten gegen den Versicherungsnehmer der Klägerin hat das Oberlandesgericht Braunschweig deshalb im Urteil vom 16. Januar 2003 (Az.: 1 U 70/02) einen für die Schädigung der H. A. ursächlichen Behandlungsfehler des Dr. B. bejaht. Im Streitfall waren die Akten des Rechtsstreits gegen Dr. B. Gegenstand der mündlichen Verhandlung, wobei die Klägerin die der Verurteilung zugrunde liegenden Tatsachen nicht in Frage ge-stellt hat. Der Versicherungsnehmer der Klägerin hat mithin die Notsectio erst aufgrund seines pflichtwidrigen Verhaltens erforderlich gemacht, obwohl ihm bekannt war, dass Dr. N. eine längere Wegezeit benötigen würde, um in das Krankenhaus zu kommen. Es handelte sich keineswegs um einen plötzlich auftretenden, nicht kalkulierbaren Notfall, vielmehr hat einen solchen Dr. B. durch seine Nachlässigkeit erst herbeigeführt, so dass ihn der weit überwiegende Verursachungsanteil an dem weiteren tragischen Verlauf der Geburt trifft, dem gegenüber das Organisationsverschulden der Insolvenzschuldnerin nicht mehr zum Tragen kommt. Eine rechtliche Verpflichtung des Beklagten, sich am Er-satz des Schadens zu beteiligen, besteht danach schon deshalb nicht, weil ein Gesamtschuldverhältnis nicht gegeben ist.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 06. Oktober 2009 – VI ZR 24/09