Kindesentführung: Prozeßkosten sind keine außergewöhnlichen Belastungen

Wir hatten hier über einen Rechtsstreit vor dem Finanzgericht Düsseldorf berichtet, in dem das Gericht die Kosten eines Zivilprozesses anlässlich eines Umgangsrechtsstreits und der Rückführung des Kindes aus dem Ausland zurück nach Deutschland als außergewöhnliche Belastungen im Rahmen der Einkommensteuererklärung anerkannt hatte.

Diese Entscheidung hat der Bundesfinanzhof nun aufgehoben, da diese Kosten gemäß § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG vom Abzug als außergewöhnliche Belastungen ausgeschlossen seien.

In dem entschiedenen Fall ist der Kläger Vater einer im Januar 2012 geborenen Tochter. Seit Juni 2012 leben er und seine frühere Ehefrau, die Mutter seiner Tochter, dauernd getrennt. Mutter und Kind leben seitdem in Südamerika.

In seiner Einkommensteuererklärung für 2014 machte der Kläger u.A. Prozesskosten in Höhe von 20.747 € als außergewöhnliche Belastung geltend.

Die Aufwendungen seien ihm im Rahmen von Verfahren zum Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung entstanden, nachdem seine frühere Ehefrau die gemeinsame Tochter nach einer Urlaubsreise nicht in die Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) zurückgebracht, sondern in Südamerika behalten habe.

Das Finanzamt wies den Einspruch als unbegründet zurück, die hiergegen gerichtet Klage hatte vor dem Finanzgericht Düsseldorf Erfolg.

Der Bundesfinanzhof sieht dies anders – und zwar aus folgenden Gründen:

Erwachsen einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstands (außergewöhnliche Belastung), so wird auf Antrag die Einkommensteuer dadurch ermäßigt, dass der Teil der Aufwendungen, der die dem Steuerpflichtigen zumutbare Belastung übersteigt, vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen wird (§ 33 Abs. 1 EStG). Gemäß § 33 Abs. 2 EStG erwachsen Aufwendungen dem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG). Nach § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG sind Aufwendungen für die Führung eines Rechtsstreits (Prozesskosten) vom Abzug ausgeschlossen, es sei denn, es handelt sich um Aufwendungen, ohne die der Steuerpflichtige Gefahr liefe, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können.

Dass es sich bei den Aufwendungen des Klägers vorliegend um Prozesskosten i.S. des § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG handelt, st unstreitig.

Nach § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG greift das grundsätzliche Abzugsverbot für Prozesskosten nur dann nicht ein, wenn der Steuerpflichtige ohne die Aufwendungen Gefahr liefe, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine notwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können.
Als Existenzgrundlage i.S. des § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG ist nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs vom 18.05.20171 die materielle Lebensgrundlage des Steuerpflichtigen zu verstehen. Zwar hat der Bundesfinanzhof die Möglichkeit in Betracht gezogen, den gesetzlich nicht definierten Begriff der Existenzgrundlage auch in einem immateriellen Sinn zu deuten, etwa als die Summe der Überzeugungen und Wertvorstellungen einer Person oder als die Eingebundenheit einer Person in eine Familie und/oder einen Freundeskreis.
Im Hinblick auf den Wortlaut, das bisherige Verständnis des Begriffs der Existenzgrundlage in der Rechtsprechung und die Entstehungsgeschichte der Norm hat er jedoch entschieden, dass unter dem Begriff der Existenzgrundlage i.S. des § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG die materielle Lebensgrundlage des Steuerpflichtigen zu verstehen ist1.

An diesem Verständnis des Begriffs der Existenzgrundlage i.S. der materiellen Lebensgrundlage hält der Bundesfinanzhof fest. Es gilt allgemein im Anwendungsbereich des § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG und nicht nur für den Fall von Scheidungskosten.
Weder das Finanzgericht Düsseldorf noch der Kläger haben neue, durchgreifende Argumente vorgebracht, die der Senat bei seiner Entscheidung vom 18.05.20171 noch nicht berücksichtigt hätte. Vielmehr sprechen die Rechtsprechungshistorie und die wörtliche Übernahme der von der BFH-Rechtsprechung verwendeten Formulierung durch den Gesetzgeber klar dafür, dass dieser auch inhaltlich an die Rechtsprechung mit einem rein materiellen Verständnis des Begriffs der Existenzgrundlage angeknüpft hat1.

Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs hatte für die Abzugsfähigkeit von Zivilprozesskosten drei Fallgruppen entwickelt. Als zwangsläufige Aufwendungen erkannte sie Zivilprozesskosten bei Aufwendungen für Scheidungen einschließlich bestimmter Scheidungsfolgesachen2 an, wenn der Prozess einen für den Steuerpflichtigen existenziell wichtigen Bereich oder den Kernbereich menschlichen Lebens berührte.
Liefe der Steuerpflichtige ohne den Rechtsstreit Gefahr, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können, könne er trotz unsicherer Erfolgsaussichten gezwungen sein, einen Zivilprozess zu führen3.
Eine weitere Ausnahme erkannte der Bundesfinanzhof bei Streitigkeiten an, die einen Kernbereich des menschlichen Lebens berührten4. Unter diesem Gesichtspunkt hat der Bundesfinanzhof jedoch nur in einem Urteil Aufwendungen für einen Familienrechtsstreit als außergewöhnliche Belastung zum Abzug zugelassen. Dieses Urteil betraf einen Rechtsstreit über das Umgangsrecht eines Vaters mit seinen nichtehelichen Kindern unter Geltung des § 1711 des Bürgerlichen Gesetzbuchs in der bis zum 30.06.1998 geltenden Fassung. Der Bundesfinanzhof hat eine solche Fallgestaltung zudem ausdrücklich nicht unter die bereits bestehende Ausnahme des Verlusts der Existenzgrundlage gefasst. In allen anderen Fällen, die Streitigkeiten über das Umgangsrecht außerhalb des sogenannten Zwangsverbunds bei Ehescheidungen betrafen, hat der Bundesfinanzhof dagegen die Abzugsfähigkeit als außergewöhnliche Belastungen verneint5. Auch daran hält der Bundesfinanzhof fest. Streitigkeiten über das Umgangsrecht berühren grundsätzlich nicht den existenziell wichtigen Bereich.

Aus der Entstehungsgeschichte des § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG ergibt sich, dass der Gesetzgeber im Hinblick auf die gewählte Gesetzesformulierung nicht nur Scheidungskosten nicht mehr als außergewöhnliche Belastungen berücksichtigt wissen wollte. Er wollte vielmehr die Abzugsfähigkeit von Prozesskosten allgemein auf Fälle beschränken, in denen der Steuerpflichtige ohne die Aufwendungen Gefahr liefe, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine notwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können. Denn der Gesetzgeber hat nur diese von der Rechtsprechung geprägte Fallgruppe als Ausnahme von dem grundsätzlichen Abzugsverbot für die Prozesskosten in § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG kodifiziert. Die beiden weiteren Ausnahmen betreffend Scheidungskosten und Aufwendungen für Rechtsstreitigkeiten, die einen Kernbereich des menschlichen Lebens berühren, hat der Gesetzgeber gerade nicht in das Gesetz übernommen.
Der Gesetzgeber hat zudem klargestellt, die Abzugsfähigkeit von Prozesskosten als außergewöhnliche Belastungen auf „einen engen Rahmen“ beschränken zu wollen6. Die vom Bundesrat vorgeschlagene Einführung eines § 33 Abs. 3a EStG, durch den die Abzugsfähigkeit von Prozesskosten – wie vom Bundesrat ursprünglich vorgesehen – auf „den bisherigen engen Rahmen“ beschränkt werden sollte7, ist demgegenüber nicht Gesetz geworden. Dies spricht dafür, dass der „enge Rahmen“ durchaus enger sein dürfte als der bisherige, mithin der durch die bisherige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs vor der Gesetzesänderung gesteckte Rahmen weiter eingeschränkt werden sollte.

Folge hiervon ist, so der Bundesfinanzhof weiter, dass nicht nur Scheidungskosten, sondern auch Aufwendungen für Streitigkeiten, die einen Kernbereich des menschlichen Lebens berühren, als solche gemäß § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG nicht mehr als außergewöhnliche Belastung abzugsfähig sind. Denn auch letztere haben im Gesetzeswortlaut keinen Niederschlag gefunden.
Für eine Auslegung, dass gleichwohl Aufwendungen für Streitigkeiten, die einen Kernbereich des menschlichen Lebens berühren, mithin die „immaterielle Existenzgrundlage“ des Steuerpflichtigen betreffen, nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG abziehbar sind, ist daher kein Raum.

Entgegen der Ansicht des Finanzgerichts Düsseldorf und des Klägers ist es nach Meinung des Bundesfinanzhofs auch verfassungsrechtlich nicht geboten, die Begriffe der Existenzgrundlage und der lebensnotwendigen Bedürfnisse in § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG (auch) in einem immateriellen Sinne zu deuten.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Beurteilung, ob eine einkommensteuerrechtliche Regelung Aufwendungen des Steuerpflichtigen aus dem Bereich der privaten Lebensführung hinreichend berücksichtigt, das Prinzip der Steuerfreiheit des Existenzminimums, das aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG abzuleiten ist.

Danach hat der Staat das Einkommen des Bürgers insoweit steuerfrei zu stellen, als dieser es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins für sich und seine Familie benötigt. Dem Grundgedanken der Subsidiarität, wonach Eigenversorgung Vorrang vor staatlicher Fürsorge hat, entspricht es, dass sich die Bemessung des einkommensteuerrechtlich maßgeblichen Existenzminimums nach dem im Sozialhilferecht niedergelegten Leistungsniveau richtet. Was der Staat dem Einzelnen voraussetzungslos aus allgemeinen Haushaltsmitteln zur Verfügung zu stellen hat, das darf er ihm nicht durch Besteuerung seines Einkommens entziehen8.

Zu diesem einkommensteuerrechtlich zu verschonenden Existenzminimum gehören Prozesskosten grundsätzlich nicht9. Soweit Prozesse zur Sicherung des Existenzminimums notwendig sind, trägt dem § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG Rechnung, indem Prozesskosten ausnahmsweise zum Abzug als außergewöhnliche Belastungen zugelassen werden, falls die Existenz des Steuerpflichtigen gefährdet wäre, würde er sich nicht auf einen Prozess einlassen.

Aus Art. 6 GG folgt nichts anderes, so der Bundesfinanzhof weiter. Entgegen der Ansicht des Finanzgerichts Düsseldorf und des Klägers geht die grundsätzlich bestehende Pflicht des Staates zur Förderung der Familie nicht so weit, dass dieser gehalten wäre, jegliche die Familie treffende finanzielle Belastung auszugleichen10.

Nach diesen Maßstäben kommt eine Berücksichtigung der streitgegenständlichen Prozesskosten nach Auffassung des Bundesfinanzhofs nicht in Betracht.

Nach den bindenden Feststellungen des Finanzgerichts Düsseldorf (§ 118 Abs. 2 FGO) sind dem Kläger die Aufwendungen nach der Entführung seiner Tochter durch die Mutter wegen seines Umgangsrechts und der Rückführung der Tochter von Südamerika nach Deutschland entstanden.

Gemäß den vorstehenden Ausführungen ist das Finanzgerichts Düsseldorf von unzutreffenden Grundsätzen ausgegangen und hat demzufolge zu Unrecht entschieden, dass der Kläger ohne die Aufwendungen für den Umgangsrechtsstreit Gefahr liefe, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können. Dem lag zugrunde, dass die Vorinstanz die Begriffe der Existenzgrundlage und der lebensnotwendigen Bedürfnisse rechtsfehlerhaft auch in einem immateriellen Sinne verstanden hat.
Der Begriff der Existenzgrundlage i.S. des § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG umfasst jedoch nur die materielle Lebensgrundlage. Diese war im Streitfall allerdings nicht gefährdet, selbst wenn der Kläger die Aufwendungen nicht getätigt hätte. Denn ein Umgangsrechtsstreit als solcher betrifft keine finanziellen Ansprüche.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 13.08.2020 – VI R 15/18
ECLI:DE:BFH:2020:U.130820.VIR15.18.0

  1. BFH, Urteil vom 18.05.2017 – VI R 9/16, BFHE 258, 142, BStBl II 2017, 988 [] [] [] []
  2. BFH, Urteil vom 20.01.2016 – VI R 70/12 []
  3. BFH, Urteile vom 09.05.1996 – III R 224/94, BFHE 181, 12, BStBl II 1996, 596; vom 27.08.2008 – III R 50/06, BFH/NV 2009, 553 []
  4. BFH, Urteil vom 04.12.2001 – III R 31/00, BFHE 198, 94, BStBl II 2002, 382 []
  5. BFH, Urteile vom 10.03.2016 – VI R 38/13; vom 28.04.2016 – VI R 15/15 []
  6. BT-Drs. 17/10604, S. 45 []
  7. BR-Drs. 302/12 – Beschluss -, S. 34, 35 []
  8. BVerfG, Beschlüsse vom 13.02.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125; vom 29.05.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60, BStBl II 1990, 653; BFH, Urteil vom 02.09.2015 – VI R 32/13, BFHE 251, 196, BStBl II 2016, 151 []
  9. BFH, Urteil vom 18.06.2015 – VI R 17/14, BFHE 250, 153, BStBl II 2015, 800 []
  10. BVerfG, Beschluss vom 07.05.1968 – 1 BvR 133/67, BVerfGE 23, 258 []