Die Frage, was man im Rahmen der Einkommensteuer als außergewöhnliche Belastung ansetzen kann, ist eines der ganz großen Themen im Rahmen der Einkommensteuererklärungen.
Wie sieht es nun aus mit den Kosten einer unverheirateten Frau für eine künstliche Befruchtung?
Hierüber musste nun das Finanzgericht Münster entscheiden.
Streitig war, ob die Kosten für eine künstliche Befruchtung bei einer unverheirateten Frau, die zu ihrem Beziehungsstatus keine Angaben macht, als außergewöhnliche Belastung anzuerkennen sind.
Worum ging es?
Die Klägerin erzielt Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Sie ist nicht verheiratet und macht zu ihrem Beziehungsstatus keine Angaben. Bei der Klägerin wurde eine krankheitsbedingte Fertilitätsstörung ärztlich festgestellt. In ihrer Einkommensteuererklärung machte die Klägerin, die im Streitjahr das 40. Lebensjahr vollendete, die Kosten für eine Kinderwunschbehandlung in Höhe von 12.246 EUR als außergewöhnliche Belastungen geltend. In den Kosten enthalten war die Rechnung der Spermabank für die verwendete Samenspende. Eine Kostenübernahme durch die Krankenversicherung erfolgte nicht. Darüber hinaus machte sie noch sonstige Krankheitskosten in Höhe von 240 EUR geltend. Im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung lehnte der Beklagte (das Finanzamt) die Berücksichtigung von außergewöhnlichen Belastungen ab. Für den Betrag von 240 EUR bejahte der Beklagte die Abzugsfähigkeit, setzte ihn jedoch mangels steuerlicher Auswirkung nicht an. Gegen diesen Einkommensteuerbescheid legte die Klägerin Einspruch ein.
Im Einspruchsverfahren forderte der Beklagte die Klägerin auf, durch eine ärztliche Bescheinigung nachzuweisen, dass die Sterilität krankheitsbedingt ist und wies darauf hin, dass eine Berücksichtigung der Kosten für eine Kinderwunschbehandlung nur in Betracht komme, wenn die Klägerin in einer gefestigten Partnerschaft lebe.
Als Nachweis für die Erkrankung legte die Klägerin ein ärztliches Attest vor, in der die behandelnde Ärztin bescheinigt, dass bei der Klägerin „eine stark eingeschränkte Fertilität“ vorliegt, die die „Wahrscheinlichkeit, dass eine Schwangerschaft auf natürlichem Wege entsteht, drastisch senkt“.
Das Vorliegen einer krankheitsbedingten Infertilität ist unter den Beteiligten ebenso wie die geltend gemachten Aufwendungen dem Grunde und der Höhe nach unstreitig.
Eine Auskunft zu ihrem Beziehungsstatus lehnte die Klägerin mit der Begründung ab, dies stelle einen weiteren Eingriff in ihre Privatsphäre dar.
Das Finanzamt hat den Einspruch als unbegründet zurückgewiesen.
Das Klageverfahren:
Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin weiter, die Kosten für die Kinderwunschbehandlung als außergewöhnliche Belastungen anzuerkennen.
Zur Begründung führt sie aus, bei ihr liege eine krankheitsbedingte Empfängnisunfähigkeit vor. Diese Erkrankung sei nur durch eine reproduktionsmedizinische Behandlung zu heilen bzw. zu überwinden. Die Behandlung sei nach intensiver und umfassender Beratung nach den geltenden ärztlichen Richtlinien vorgenommen worden.
Die Klägerin macht geltend, der Familienstand, in dem sie zum Zeitpunkt der Behandlung gelebt habe, sei für die Frage, ob eine außergewöhnliche Belastung zu bejahen sei, unbeachtlich. Es komme allein darauf an, dass eine Erkrankung vorliege, die durch die vorgenommenen Behandlungen gelindert werden könne bzw. solle. Die Zwangslage ergebe sich allein aus dem Vorliegen der Erkrankung. Die Zwangslage werde nicht durch die Beziehung zu einem Partner definiert. Darüber hinaus könne auch der Argumentation des Beklagten, dass es nicht Aufgabe des Steuerrechts sein könne, durch die Anerkennung der Kosten als außergewöhnliche Belastung die Herbeiführung eines Alleinerziehungsverhältnisses zu fördern, nicht gefolgt werden. Denn das Kindeswohl sei nicht allein dadurch sichergestellt, dass das Kind in einer Partnerschaft groß gezogen werde. Schließlich sei die Lebenswirklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland durch einen hohen Anteil von alleinerziehenden Elternteilen geprägt. Abgesehen davon könne sich eine Familiensituation auch nach der Geburt jederzeit ändern. Alleinerziehende seien ein fester Bestandteil der heutigen Gesellschaft. Auf die Zufälligkeiten menschlicher Beziehungen könne es für die Anwendbarkeit des § 33 EStG nicht ankommen. Abschließend weist die Klägerin darauf hin, dass die aktuelle Richtlinie der Bundesärztekammer zur Entnahme und Übertragung von menschlichen Keimzellen im Rahmen der assistierten Reproduktion vom 06.10.2017 keine Einschränkung dahingehend erkennen lasse, dass eine In-Vitro-Fertilisation nur bei Verheirateten oder in einer Lebenspartnerschaft lebenden Paaren in Betracht komme.
Die Entscheidung:
Nach Auffassung des Finanzgerichts Münster ist die Klage begründet.
Bei den Kosten, die der Klägerin im Zusammenhang mit der Behandlung ihrer Fertilitätsstörung und der künstlichen Befruchtung entstanden sind, handelt es sich um außergewöhnliche Belastungen i.S.d. § 33 EStG.
1. Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes erwachsen. Aufwendungen entstehen einem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann, soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG).
In ständiger Rechtsprechung geht der Bundesfinanzhof davon aus, dass Krankheitskosten, ohne Rücksicht auf die Art und die Ursache der Erkrankung dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig erwachsen. Allerdings werden nur solche Aufwendungen als Krankheitskosten berücksichtigt, die zum Zwecke der Heilung einer Krankheit oder mit dem Ziel erbracht werden, die Krankheit erträglich zu machen1.
Im Hinblick auf die für den Abzug nach § 33 EStG erforderliche Zwangsläufigkeit wird nicht danach unterschieden, ob ärztliche Behandlungsmaßnahmen oder medizinisch indizierte Hilfsmittel der Heilung dienen oder lediglich einen körperlichen Mangel ausgleichen sollen. Deshalb werden regelmäßig auch solche Aufwendungen als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt, die daraus resultieren, dass der körperliche Mangel durch die betreffende Maßnahme nicht behoben, sondern ‑ wie bei der künstlichen Befruchtung ‑ nur umgangen oder kompensiert wird2. An die Prüfung der Notwendigkeit und Angemessenheit der Krankheitskosten ist kein strenger Maßstab zu stellen. Sie ist nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs nur dann nicht mehr anzunehmen, wenn ein für jedermann offensichtliches Missverhältnis zwischen dem erforderlichen und dem tatsächlichen Aufwand vorliegt3
Der Grundsatz, dass die Zwangsläufigkeit von Krankheitskosten unterstellt wird, gilt auch für Kosten einer künstlichen Befruchtung. An der von diesem Grundsatz der tatsächlichen Zwangsläufigkeit abweichenden Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs in seinem Urteil vom 28.07.20054, in dem er die Abzugsfähigkeit von Aufwendungen für eine künstliche Befruchtungen einer unverheirateten empfängnisunfähigen Frau als außergewöhnliche Belastungen wegen fehlender Zwangsläufigkeit verneint hat, hat der Bundesfinanzhof nicht festgehalten5. Die Empfängnisunfähigkeit einer Frau sei unabhängig von ihrem Familienstand eine Krankheit. Dementsprechend erkennt der Bundesfinanzhof in ständiger Rechtsprechung Aufwendungen für die künstliche Befruchtung als Behandlung bei Sterilität an, wenn diese in Übereinstimmung mit den Richtlinien der Berufsordnungen für Ärzte vorgenommen wird6.
Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze, denen das Finanzgericht Münster folgt, stellen die Kosten, die im Zusammenhang mit der bei der Klägerin durchgeführten künstlichen Befruchtung stehen, berücksichtigungsfähige außergewöhnliche Belastungen dar.
Bei der Klägerin liegt eine krankheitsbedingte Sterilität vor.
Dies ergibt sich aus dem ärztlichen Attest der behandelnden Ärztin, in dem diese bescheinigt, dass bei der Klägerin eine „stark eingeschränkte Fertilität“ vorliegt, die die „Wahrscheinlichkeit, dass eine Schwangerschaft auf natürlichem Wege entsteht, drastisch senkt“. Eine stark eingeschränkte Fertilität stellt einen objektiv anomalen regelwidrigen Körperzustand dar7.
Zwar ergibt sich aus dem ärztlichen Attest, dass auch das „fortgeschrittene“ Alter der Klägerin für die eingeschränkte Sterilität (mit)ursächlich ist, jedoch ändert dies nichts daran dass die Fertilität (auch) krankheitsbedingt ist. Abweichend von der Rechtsprechung des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg8 vertritt das Finanzgericht Münster nicht die Auffassung, dass eine Sterilität nach Vollendung des 40. Lebensjahres per se nicht krankheitsbedingt, sondern vielmehr Folge des natürlichen biologischen Alterungsprozesses ist.
Bei der Frage nach der Ursache einer Sterilität handelt es sich um eine biologisch medizinisch komplexe Frage, die in vielen Fällen selbst nach eingehenden Untersuchungen nicht geklärt werden kann. Die Beantwortung an das Erreichen einer bestimmen Altersgrenze zu knüpfen, wird dem medizinischen Phänomen nicht gerecht. Die Festlegung eines „normalen gebärfähigen Alters“ im Sinne einer starren Altersgrenze existiert nicht. Eine entsprechende Festlegung dürfte auch wegen der vielen zu berücksichtigenden Aspekte rechtlich, ethisch und medizinisch schwierig sein9: Es würde sich z.B. die Frage stellen, ob ein bestimmtes Lebensalter oder das biologische Alter, das bei jedem Menschen unterschiedlich ist, zugrundezulegen wäre. Möglich wäre auch eine Bestimmung eines „normalen gebärfähigen Alters“ nach dem, was in der Gesellschaft überwiegend für normal gehalten wird oder was sich statistisch aus den tatsächlichen Gegebenheiten ergibt. Aus Sicht des Senates dürfte sich eine generelle Festlegung verbieten, weil die Faktoren, anhand derer eine Bestimmung vorgenommen werden könnte, zum einen individuell sehr unterschiedlich sind und zum anderen einem beständigen Wandel in gesellschaftlicher und medizinischer Hinsicht unterliegen.
Nach Auffassung des Finanzgerichts Münster kann bei einer Behandlung, die nach den Richtlinien der Berufsordnung für Ärzte durchgeführt wird, davon ausgegangen werden, dass diese nur vorgenommen wird, wenn die medizinischen Voraussetzungen für eine Schwangerschaft vorliegen, mithin die Patientin in einem gebärfähigen Alter ist.
Im Streitfall hatte die Klägerin bei Behandlungsbeginn gerade erst das 40. Lebensjahr vollendet. In diesem Alter steht auch die gesellschaftliche Akzeptanz einer Schwangerschaft in der heutigen Gesellschaft nicht in Frage. Dies zeigt sich insbesondere an den Erhebungen des Statischen Bundesamts zur Geburtenhäufigkeit. Zum einen ist die Geburtenhäufigkeit bei Frauen ab 40 in den letzten Jahren stark gestiegen und zum anderen hat sich in den letzten 40 Jahren das Maximum der altersspezifischen Geburtenziffer (Alter der Frauen, in dem die Geburtenziffer am höchsten ist) kontinuierlich nach oben verschoben; danach war die Geburtenhäufigkeit im Jahr 2017 bei Frauen im Alter von 40 Jahren nahezu identisch mit der im Alter von 22 Jahren .
Die vorgenommene Behandlung zielte darauf ab, den körperlichen Mangel, nicht auf natürlichem Wege schwanger werden zu können, medizinisch auszugleichen. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Kosten, die dem Grunde und der Höhe nach unter den Beteiligten unstreitig sind, sind daher aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig5.
Auch eine Aufteilung der Krankheitskosten kommt nicht in Betracht. Die Kosten für die Behandlung sind ebenso zu berücksichtigen, wie die Kosten für den Spendersamen. Die Aufwendungen dienten dazu, die Fertilitätsstörung der Klägerin auszugleichen. Es handelte sich hierbei um eine insgesamt auf dieses Krankheitsbild abgestimmte Heilbehandlung, die darauf gerichtet ist, die Fertilitätsstörung zu überwinden. Die Behandlung ist insoweit als untrennbare Einheit zu sehen, die die Bereitstellung und Aufbereitung des Spendersamens und die darauf entfallenden Kosten umfasst10.
Entgegen der Auffassung des Beklagten lässt der Umstand, dass die Klägerin nicht nachgewiesen hat, dass sie in einer (festgefügten) Partnerschaft lebt, die Zwangsläufigkeit der Aufwendungen nicht entfallen. Wie bereits dargelegt, sind nach nunmehr ständiger Rechtsprechung, der das Finanzgericht Münster folgt, Aufwendungen für die künstliche Befruchtung als Behandlung bei einer krankheitsbedingten Sterilität als Krankheitskosten und insoweit unabhängig vom Familienstand der Frau als außergewöhnliche Belastungen anzuerkennen, wenn die Behandlung in Übereinstimmung mit den Richtlinien der Berufsordnungen für Ärzte vorgenommen wird11.
Auch wenn die oben zitierte Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, so das Finanzgericht Münster weiter, zu Fallgestaltungen ergangen ist, in denen zum einen die künstliche Befruchtung bei einer Frau vorgenommen wurde, die in einer festgefügten Partnerschaft lebte, und zum anderen zu einer Zeit, in der die „(Muster-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion“, die von der Bundesärztekammer auf Empfehlung des Wissenschaftlichen Beirats im Jahr 2006 beschlossen wurde12, noch vorsah, dass die Methoden der assistierten Reproduktion grundsätzlich nur bei (Ehe)Paaren angewandt werden sollten, gilt nach Auffassung des Senats auch in dem hier vorliegenden Fall, in dem nicht festgestellt werden kann, ob die Klägerin in einer (festgefügten) Partnerschaft lebt, der in ständiger Rechtsprechung aufgestellte Grundsatz, dass bei typischen unmittelbaren Aufwendungen zur Überwindung einer Krankheit die Außergewöhnlichkeit unwiderleglich vermutet und deren Zwangsläufigkeit aus tatsächlichen Gründen unterstellt wird.
Denn die Zwangslage der infolge einer Erkrankung empfängnisunfähigen Frau wird durch eben diese Erkrankung verursacht und nicht erst dadurch, dass sich die erkrankte Frau wegen des Bestehens einer festgefügten Partnerschaft oder Ehe im Sinne einer Zwangslage mit der Erwartung ihres Partners oder der eigenen Erwartung konfrontiert sieht, den körperlichen Mangel behandeln lassen zu müssen, um ein Kind in die Ehe oder Partnerschaft zu gebären. Auch wenn in einer Ehe oder einer festen Partnerschaft, die mitunter mit dem Ziel, eine Familie zu gründen, eingegangen wird, der Leidensdruck eines unerfüllten Kinderwunsches größer sein mag als bei einer alleinstehenden Frau, so liegt die Zwangsläufigkeit, dass zur Krankheitsbehebung bzw. Krankheitsumgehung die erforderlichen Maßnahmen getroffen werden müssen, allein in der Fertilitätsstörung. Zudem bedeutet Kinder zu haben und aufzuziehen – unabhängig vom Familienstand ‑ für sehr viele Menschen eine zentrale Sinngebung ihres Lebens. Ungewollte Kinderlosigkeit wird deshalb häufig als schwere Belastung erlebt, die im Fall der Empfängnisunfähigkeit ebenso wie im Fall der Zeugungsunfähigkeit nur durch die künstliche Befruchtung kompensiert werden kann. Die Bereitwilligkeit, mit der die hiervon Betroffenen erhebliche Kosten, große Mühen und unangenehme Behandlungen über sich ergehen lassen, belegt zudem den intensiven Leidensdruck. Insoweit verbietet es sich, den Steuerpflichtigen vorzuhalten, nur in einer gefestigten Beziehung seien die Kosten steuerlich berücksichtigungsfähig.
Schließlich stehen nach Auffassung des Finanzgerichts Münster auch nicht die Interessen des zu zeugenden Kindes einer steuermindernden Berücksichtigung der Kosten für eine künstliche Befruchtung entgegen.
Zwar dürfte es sich im Idealfall auf das Kindeswohl positiv auswirken, wenn das Kind von zwei Bezugspersonen in einer gefestigten intakten Beziehung (Ehe oder eingetragene Lebenspartnerschaft) aufwächst, da die besonders intensiven rechtlichen Verpflichtungen zwischen Ehe bzw. Lebenspartnern dem Kind eine größere rechtliche Stabilität und mehr rechtliche Sicherheit geben13. Und auch eine sonstige festgefügte Partnerschaft der Eltern bedeutet im Idealfall mit zwei sich sorgenden und versorgenden Bezugspersonen eine tatsächliche Stabilität und Sicherheit für das Kind.
Diese rechtlichen und tatsächlichen Vorteile, so sie sich auch als solche auswirken, wiegen nach Auffassung des Senats in der heutigen Gesellschaft jedoch nicht mehr so schwer, dass sie die Zwangslage einer empfängnisunfähigen unverheirateten Frau entfallen ließen. Zum einen ist dieser Vorteil, wenn er auch zum Zeitpunkt der Zeugung bestehen mag, nicht ohne weiteres für die Zukunft von Bestand, wie man an der Scheidungsrate und der Rate der von der Scheidung betroffenen Kinder sieht. Laut dem Statistischen Bundesamt wurde 2017 durchschnittlich jede dritte Ehe geschieden und jede fünfte Lebenspartnerschaft aufgelöst (vgl. Statistisches Jahrbuch 2019 S. 61-64). Der Umstand, dass ein Kind nichtehelich geboren wird, führt für sich genommen nicht zu einem Nachteil. In Deutschland werden ca. 35 % aller Kinder nichtehelich geborenen (Statistisches Jahrbuch 2019 für die Bundesrepublik Deutschland, S. 35).
Zum anderen sind laut einer Auswertung des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) aus dem Jahr 2012 Kinder Alleinerziehender in ihrer Entwicklung nicht benachteiligt und haben in der Regel gute Bedingungen des Aufwachsens und für das eigene Wohlbefinden14. So hat eine Studie zum Einfluss des Alleinerziehens und der sozialen Lage auf die Lebenssituation aus Sicht der Kinder in Deutschland gezeigt, dass Kinder von Alleinerziehenden in der Regel nicht weniger Fürsorge oder Zuwendung erhalten als Kinder in Paarfamilien (Bepanthen-Kinderförderung 2011). So unterscheiden sich beim Familienklima Kinder Alleinerziehender, Kinder verheirateter Eltern und Kinder nichtehelicher Lebensgemeinschaften kaum: 90 Prozent der Kinder geben unabhängig von der Familienform an, „immer“ bzw. „oft“ gerne mit ihrer Familie zusammen zu sein. Auch in Bezug auf andere Lebensbereiche, etwa das körperliche oder soziale Wohlbefinden, zeigen sich kaum Unterschiede zwischen Kindern Alleinerziehender und Kindern in Paarfamilien (vgl. BMAS 2011: 35 ff.). Demnach gelingt es die alleinerziehenden Eltern, ihre – im Vergleich zu Eltern in Paarbeziehungen ‑ höhere Belastung, nicht auf ihre Kinder zu übertragen. Der Alltag von Kindern unterscheidet sich nur unwesentlich nach der jeweiligen Familienform, in der sie aufwachsen. So gibt es keine nennenswerten Unterschiede in der Freizeit und Feriengestaltung: Die Kinder übernachten gleich häufig bei Freunden, nehmen an Kinder- oder Jugendfreizeiten teil oder machen bei Bekannten oder Verwandten Urlaub (vgl. BMFSFJ, Alleinerziehende in Deutschland – Lebenssituationen und Lebenswirklichkeiten von Müttern und Kindern, Monitor Familienforschung, Beiträge aus Forschung, Statistik und Familienpolitik, Ausgabe 28, Seite 21 ff m.w.N.)
Auch eine Stigmatisierung ist mit der nichtehelichen Geburt heute nicht mehr verbunden. In unserer Gesellschaft haben sich Familienmodelle ‑ die auch gesellschaftlich akzeptiert sind ‑ abseits der klassischen Familie zu einem nicht unerheblichen Anteil etabliert. Das Familienmodell der alleinerziehenden Elternteile entspricht längst der gesellschaftlichen Realität. 2017 betrug der Anteil der Alleinerziehenden 22,6 % (Statistisches Jahrbuch 2019 S. 65).
Das Zusammenleben mit Kindern gehört zum Kernbereich des menschlichen Lebens (vgl. Loschelder in Schmidt, Einkommensteuergesetzt, Kommentar, 39. Auflage 2020, § 33 Rz. 90 „Adoption“) und kann nach Auffassung des Senats nicht von dem Familienstand zum Zeitpunkt der Zeugung eines Kindes abhängig gemacht werden.
Das Argument des Beklagten, es sei nicht Aufgabe des Steuerrechts, durch die Abzugsfähigkeit der Kosten für eine künstliche Befruchtung die Herbeiführung eines Alleinerziehungsverhältnisses zu fördern, überzeugt daher nicht. Dieser Gedanke findet insbesondere keine Grundlage im Gesetz. Durch die künstliche Befruchtung wird die außergewöhnliche Belastung, die mit der Fertilitätsstörung einhergeht, ausgeglichen. Die Anerkennung entsprechender Kosten stellt keine Begünstigung im Sinne eines steuerlichen Anreizes dar, den der Gesetzgeber mit einem Lenkungszweck verbunden hat. Es ist nicht Aufgabe des Steuerrechts, durch die Versagung der Anerkennung als außergewöhnliche Belastung die Entstehung eines Alleinerziehungsverhältnisses zu verhindern, zumal Gesichtspunkte des Kindeswohls nicht entgegen stehen.
Die Behandlung der Klägerin wurde auch in Einklang mit den Richtlinien der Berufsordnungen für Ärzte vorgenommen.
Die Praxis, in der die Klägerin behandelt wurde, ist bei der Kassenärztlichen Vereinigung mit qualitätsgesicherten Leistungen (QS) in den verschiedenen Bereichen der Kinderwunschbehandlung registriert. Dort unterliegen bestimmte Leistungen, darunter auch Leistungen im Zusammenhang mit einer Kinderwunschbehandlung (Künstliche Befruchtung nach Hormonbehandlung, In-Vitro-Fertilisation (IVF) und Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI)), einer besonderen Qualitätssicherung durch die Kassenärztliche Vereinigung C. Diese sogenannten QS-Leistungen darf der Vertragsarzt nur erbringen, wenn er eine spezielle fachliche Qualifikation nachweist. Nur Ärzte, die diese Qualitätsanforderungen erfüllen, dürfen diese Leistungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung erbringen (vgl. § 121 a SGB V) und dieses Leistungsangebot auf der entsprechenden Internetseite der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) C veröffentlichen. Da die behandelnden Ärzte der Praxis, darunter auch die Ausstellerin des vorgelegten ärztlichen Attests, Dr. med. T N, auf der Seite der KV mit den entsprechenden Leistungen der künstlichen Befruchtung als qualitätsgesichert registriert sind und sich weder aus den vorliegenden Unterlagen noch aus dem Vortrag des Beklagten anderweitige Anhaltspunkte ergeben, kommt der Senat zu dem Schluss, dass die bei der Klägerin durchgeführte Behandlung mit den Richtlinien der Berufsordnungen für Ärzte und dem deutschen Embryonenschutzgesetz (ESchG) im Einklang stand.
Insbesondere steht die früher geltende „(Muster-) Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion“ vom 17.02.2006, die unter 3.1.1 als statusrechtliche Voraussetzung regelte, dass die Methoden der assistierten Reproduktion unter Beachtung des Kindeswohles nur bei Ehepaaren oder bei nichtverheirateten Paaren, die in einer festgefügten Partnerschaft leben, angewandt werden sollten, einer Anerkennung der Behandlungskosten als außergewöhnliche Belastungen nicht entgegen. Denn diese Musterrichtlinie wurde im Bundesland C, wo die Behandlung der Klägerin vorgenommen wurde, nicht in die von der Landesärztekammer erlassene Berufsordnung übernommen, so dass sie dort keine Bindungswirkung hatte. Für die Prüfung der Frage, ob die Behandlung im Einklang mit der Berufsordnung der Ärzte steht, ist jeweils die Richtlinie heranzuziehen, die von der Ärztekammer des die Behandlung durchführenden Arztes erlassen wurde.
Aus diesem Grund spielt der Umstand, dass diese Musterrichtlinie aufgehoben wurde, im Streitfall zwar keine Rolle, soll aber dennoch der Vollständigkeit halber erwähnt werden: Am 06.10.2017 (an diesem Tag wurde die erste künstlichen Befruchtung bei der Klägerin vorgenommen) wurde vom Vorstand der Bundesärztekammer auf Empfehlung des Wissenschaftlichen Beirats die „Richtlinie zur Entnahme und Übertragung von menschlichen Keimzellen im Rahmen der assistierten Reproduktion“ beschlossen. Im Vorwort zur Einführung der neuen Richtlinie wird von den beteiligten Gremien klargestellt, dass der Vorstand der Bundesärztekammer im Februar 2015 beschlossen hat, die medizinisch-wissenschaftlichen Fragstellungen von den gesellschaftspolitischen Aspekten – wie beispielsweise dem Beziehungsstatus der Patienten ‑klar zu trennen. Demzufolge stellt die Bundesärztekammer in dieser Richtlinie auf der Grundlage des Transplantationsgesetzes (§ 16b TPG) den allgemein anerkannten Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft zu den Anforderungen an die ärztliche Beurteilung zur Entnahme und Übertragung von menschlichen Keimzellen im Rahmen der assistierten Reproduktion fest. Mit der Richtlinie sollen praktikable und einheitliche Rahmenbedingungen im Hinblick auf die Qualität der Versorgung der Betroffenen geschaffen werden, die den Beteiligten die notwendige Rechtssicherheit und eine hohe Behandlungssicherheit garantieren.
Die für die Berücksichtigung als außergewöhnliche Belastung gem. § 33 EStG erforderliche Voraussetzung der fehlenden Möglichkeit, die Kosten von dritter Seite erstattet zu bekommen, ist ebenfalls erfüllt. Die Krankenversicherung der Klägerin hat keine Aufwendungen erstattet.
Schließlich bestand für die Klägerin auch keine Möglichkeit, die Kosten von der Krankenversicherung ersetzt zu bekommen, denn in der gesetzlichen wie in der privaten Krankenversicherung kommt ein Kostenersatz bei anerkannter Fertilitätsstörung nur bei verheirateten Frauen in Betracht. Bei der gesetzlichen Krankenversicherung ergibt sich dies aus § 27a Abs. 1 Nr. 3 SGB V. Bei der privaten Krankenversicherung aus der gefestigten Rechtsprechung des BGH, der einen Erstattungsanspruch ausschließlich verheirateten Versicherungsnehmern zuerkennt15.
Das Finanzgericht Münster hat die Revision zugelassen.
Finanzgericht Münster, Urteil vom 24.06.2020 – 1 K 3722/18 E
ECLI:DE:FGMS:2020:0624.1K3722.18E.00
- BFH, Urteile vom 17.07.1981 – VI R 77/78, BStBl II 1981, 711; vom 13.02.1987 – III R 208/81, BStBl II 1987, 427; vom 20.03.1987 – III R 150/86, BStBl II 1987, 596; vom 02.09.2010 – VI R 11/09, BStBl II 2011, 119 [↩]
- BFH, Urteil vom 16.12.2010 – VI R 43/10, BStBl II 2011, 414 [↩]
- BFH, Urteil vom 14.11.2013 – VI R 20/12, BStBl II 2014, 456 [↩]
- BFH, Urteil vom 28.07.2005 – III R 30/03, BStBl II 2006, 495 [↩]
- BFH, Urteil vom 10.05.2007 – III R 47/05, BStBl II 2007, 871 [↩] [↩]
- BFH, Urteile vom 10.05.2007, BStBl II 2007, 871; vom 21.02.2008 – III R 30/07, BFH/NV 2008, 1309; vom 16.12.2010 – VI R 43/10, BStBl II 2011, 414; vom 17.05.2017 – VI R 34/15, BStBl II 2018, 344; vom 05.10.2017 – VI R 47/15, BStBl II 2018, 350).
Weitere Voraussetzung für die Abzugsfähigkeit von Behandlungskosten ist, dass die den Aufwendungen zugrunde liegende Behandlung mit der innerstaatlichen Rechtsordnung im Einklang steht. Denn eine nach nationalem Recht verbotene Behandlung könne keinen zwangsläufigen Aufwand i.S. des § 33 Abs. 1 EStG begründen. Vielmehr sei von den Steuerpflichtigen zu erwarten, dass sie gesetzliche Verbote beachten ((BFH, Urteil vom 17.05.2017 – VI R 34/15, BStBl II 2018, 344; zu der Frage, ob Kosten im Zusammenhang mit einer in Deutschland verbotenen Eizellenspende abzugsfähig sind, sind derzeit zwei Revisionsverfahren unter den Aktenzeichen VI R 34/19 und VI R 35/19 anhängig [↩]
- BFH, Urteil vom 16.12.2010 – VI R 43/10, BStBl. II 2011, 414 [↩]
- FG Berlin-Brandenburg Urteil vom 18.10.2018 – 9 K 11390/16, EFG 2019, 106 [↩]
- FG München, Urteile vom 20.05.2009 – 10 K 2156/08, EFG 2009, 1462; vom 08.10.2019 – 6 K 1420/17, EFG 2020, 49 [↩]
- BFH, Urteil vom 05.10.2017 – VI R 2/17, Rn. 24, BFH/NV 2018, 194 zu dem Fall einer künstlichen Befruchtung einer in gleichgeschlechtlicher Partnerschaft lebenden Frau; ebenso Bleschick, EFG 2017, 476; a.A. Hermenns/Modrzejewski/Rüsch, Finanz-Rundschau 2017, 270, 275 [↩]
- BFH, Urteile vom vom 21.02.2008 – III R 30/07, BFH/NV 2008, 1309; vom 16.12.2010 – VI R 43/10, BStBl II 2011, 414; vom 17.05.2017 – VI R 34/15, BStBl II 2018, 344; vom 05.10.2017 – VI R 47/15, BStBl II 2018, 350 [↩]
- vgl. Deutsches Ärzteblatt Jg. 103, Heft 20, 19.05.2006 [↩]
- BVerfG, Urteil vom 28.02.2007 – 1 BvL 5/03 [↩]
- vgl. BMFSFJ, Alleinerziehende in Deutschland – Lebenssituationen und Lebenswirklichkeiten von Müttern und Kindern, Monitor Familienforschung, Beiträge aus Forschung, Statistik und Familienpolitik, Ausgabe 28, Seite 21 ff [↩]
- BGH, Urteile vom 03.03.2004 – IV ZR 25/03, BGHZ 158, 166; vom 12.07.2006 – IV ZR 173/05; vom 13.09.2006 – IV ZR 133/05 [↩]