Kürzungen beim Arbeitslosengeld verfassungswidrig?

Mit dem Sozialgericht Berlin hat jetzt erstmals ein Sozialgericht verfassungsrechtliche Bedenken an den Harz IV-Reformen geäußert und in zwei bei ihm anhängigen Fällen die Rechtsstreite dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt.

Das ?Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt? vom Dezember 2003 hatte die Höchst-Dauer für Arbeitslosengeld für ältere Arbeitslose von 32 Monaten auf 18 Monate nahezu halbiert. Für die Mehrzahl der übrigen Arbeitslosen wurde die Höchst-Dauer einheitlich auf 12 Monate begrenzt. Die Kürzung betrifft alle Arbeitslosen, die seit dem 1. Februar 2006 einen Antrag auf Arbeitslosengeld bei der Agentur für Arbeit gestellt haben. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe soll nun eine abschließende Entscheidung zu dem Reformgesetz treffen. Die 56. Kammer des Berliner Sozialgerichts hat dort zwei Muster-Fälle zur Überprüfung vorgelegt:

  • In dem ersten Fall meldete sich ein 54jähriger Schlosser aus Berlin im November 2005 arbeitslos. Da das Reformgesetz noch nicht in Kraft war, bewilligte die Agentur für Arbeit Arbeitslosengeld für insgesamt 780 Tage (26 Monate). Diese Bewilligung wurde jedoch aufgehoben, nachdem die Krankenkasse festgestellt hatte, dass der Arbeitslose zu diesem Zeitpunkt krank und daher nicht arbeitsfähig war. Als sich der Schlosser am 1. März 2006 erneut arbeitslos meldete, erhielt er nur noch Arbeitslosengeld für 360 Tage (12 Monate).
  • In dem zweiten dem BVerfG vorgelegten Fall meldete sich ein 52jähriger Verkäufer genau am 1. Februar 2006 arbeitslos. Ihm wurde Arbeitslosengeld für 360 Tage bewilligt (12 Monate). Hätte sich der Mann einen Tag früher arbeitslos gemeldet, hätte ihm nach bisherigem Recht ein Anspruch auf 660 Tage (22 Monate) zugestanden.

Das SG Berlin begründete seine Richtervorlagen an das BVerfG damit, dass der Anspruch auf Arbeitslosengeld durch das Grundrecht auf Eigentum geschützt ist (Artikel 14 Grundgesetz). Die drastische Kürzung der Anspruchsdauer hätte jedenfalls durch eine längere Übergangsfrist abgefedert werden müssen, als sie das Reformgesetz vorgesehen habe. Denkbar wäre beispielsweise gewesen, die Höchst-Dauer des Anspruchs jährlich um einen Monat abzusenken. Ähnliche Staffelungen sind in anderen Bereichen des Sozialversicherungsrechts üblich.

Aus den Beschlüssen des SG Berlin:

1. Der Rechtsstreit wird ausgesetzt.
2. Das Verfahren wird gemäß Art. 100 GG dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt, ob § 127 SGB III in der Fassung des Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 (BGBl I Seite 3002) mit Art. 14 GG vereinbar ist.

Gründe:

Ansprüche aus der Sozialversicherung genießen Eigentumsschutz, wenn sie auf nicht unerheblichen Eigenleistungen beruhen und der Existenzsicherung dienen (vgl. BVerfGE 69, 272, 301, 304; 92, 365, 405). Der Anspruch auf Arbeitslosengeld unterfällt diesem Schutz, weil er auf Beiträgen des Versicherten beruht und seiner Existenzsicherung für einen gewissen Zeitraum seiner Arbeitslosigkeit dient. Dem Eigentumschutz unterfällt aber nicht nur der bereits erworbene Anspruch auf Arbeitslosengeld, sondern auch das Anwartschaftsrecht auf Arbeitslosengeld (vgl. BVerfGE 74, 203, 213), d.h. zum Erwerb des Anspruches auf Arbeitslosengeld fehlt nur der Eintritt der Arbeitslosigkeit. Hier hatte der Kläger zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des § 127 SGB III am 24. Dezember 2003 eine Anwartschaft auf Arbeitslosengeld von 22 Monaten erworben. Diese ist dann auf 28 Monate gewachsen, weil der § 127 SGB wegen der Übergangsvorschrift des § 434 j Abs. 3 SGB III erst zum 01. Februar 2006 in Kraft getreten ist. Nach Auffassung der Kammer ist die neue Regelung des § 127 SGB III trotz der Übergangsfrist des § 434 j Abs. 3 SGB III verfassungswidrig. Aus dem vom Gesetzgeber zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgt die Notwendigkeit einer schonenden Übergangsregelung (vgl. BVerfGE 53, 336, 351; 58, 300, 351; 71, 71, 137, 144). Ob und in welchem Umfang sie notwendig ist, hängt von der Abwägung zwi-schen dem Ausmaß des Vertrauensschadens und der Bedeutung des gesetzlichen Anliegens für die Allgemeinheit ab (vgl. BVerfGE 70, 101, 114). Gesetzliches Anliegen der Bundesregierung war es, mit der Neuregelung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld der Frühverrentung der Arbeitnehmer entgegen zu wirken. In der Gegenäußerung der Bundesregierung (vgl. BT-Drs. 15/1637, S. 12) zur Stellungnahme des Bundesrates führt sie aus: „Zu der weit verbreiteten Frühverrentungspraxis hat insbesondere die von der früheren Bundesregierung eingeführte erhöhte Dauer des Arbeitslosengeldes von bis zu 32 Monaten für ältere Arbeitnehmer beigetragen. Im Hinblick auf den sich in bestimmten Teilarbeitsmärkten bereits abzeichnenden Fachkräftemangel und die demografische Entwicklung ist mittelfristig ein längerer Verbleib von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Erwerbsleben erforderlich. Mit dem Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt wird die Dauer des Anspruches auf Arbeitslosengeld daher grundsätzlich auf 12 und für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die das 55. Lebensjahr vollendet haben, auf höchstens 18 Monate begrenzt werden.“

Dieses gesetzliche Anliegen rechtfertigt aber nicht die drastische Kürzung der Anspruchsdauer des Arbeitslosengeldes. Stand dem über 57-Jährigen nach dem bis 31. Dezember 2003 geltenden § 127 SGB III ein Alg-Anspruch von maximal 32 Monaten zu, so beträgt nunmehr die maximale Anspruchsdauer 18 Monate. Konnte nach dem früheren § 127 SGB III bereits mit Vollendung des 45. Lebensjahres ein längerer Alg-Anspruch als 12 Monate erworben werden, so ist dies nach dem zum 01. Januar 2004 in Kraft getretenen § 127 Abs. 2 SGB III bis zur Vollendung des 55. Lebensjahres überhaupt nicht mehr möglich. Für alle Arbeitnehmer unter 55 Lebensjahren beträgt die maximale Alg-Anspruchsdauer 12 Monate. § 434 j Abs. 3 SGB III hat das In-Kraft-Treten dieser Neuregelungen nur bis zum 01. Februar 2006 hinausgeschoben. Diese generelle Übergangsfrist von 25 Monaten reicht nicht aus, um die Eigentumsverletzung zu vermeiden, wie die Bundesregierung in der Begründung ihres Regierungsentwurfs (vgl. BT-Drs. 15/1204 S. 14) meint: „Die Vorschrift gewährt Bestandsschutz zur Neuregelung der Anspruchsdauer des Arbeitslosengeldes in den Fällen, in denen bereits ein Anspruch auf Arbeitslosengeld entstanden ist, oder in denen ein Arbeitnehmer eine Anwartschaft für einen Leistungsanspruch und damit eine nach Art. 14 des Grundgesetzes eigentumsgeschützte Rechtsposition erworben hat. Die Regelung berücksichtigt damit sowohl die verfassungsrechtlichen Vorgaben für gravierende Eingriffe in den Anspruch auf Arbeitslosengeld als auch die soziale Situation der Arbeitnehmer, die innerhalb einer Übergangsfrist von zwei Jahren nach Inkrafttreten der Neuregelung arbeitslos werden. Für sie gelten die bisherigen günstigeren Regelungen zur Dauer des Anspruches auf Arbeitslosengeld weiter.“ Mit Ablauf dieser Frist wird der Eingriff in das Anwartschaftsrecht aber in vollem Umfange wirksam, ohne, dass ein Grund ersichtlich ist, warum dies nötig sein sollte. Diese allgemeine Übergangsfrist stellt gerade keine schonende Übergangsregelung dar. Mit Spellbrink in Eicher/ Schlegel, SGB III, 67. Ergänzung, Stand Juni 2006, § 127, Rdnr. 58, ist für diesen massiven Eingriff in das Arbeitslosengeld „eine großzügige und langfristige Übergangsregelung“ erforderlich. Der § 434 j Abs. 3 SGB III erfüllt diesen Anspruch nicht. Eine schonende Übergangsregelung hätte etwa so aussehen können, dass jährlich die maximale Anspruchsdauer (rechte Spalte des § 127 Abs. 2 SGB III a.F.) um einen Monat reduziert worden wäre.

Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 8. Mai 2007 S 56 AL 2259/06
(Aktenzeichen des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht: 1 BvL 9/07)

1. Der Rechtsstreit wird ausgesetzt.
2. Das Verfahren wird gemäß Art. 100 GG dem Bundes- verfassungsgericht vorgelegt, ob § 127 SGB III in der Fassung des Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 (BGBl I Seite 3002) mit Art. 14 GG vereinbar ist.

Gründe:

Die Kammer hält die neue Regelung für verfassungswidrig, weil sie gegen Art. 14 GG verstößt. Ansprüche aus der Sozialversicherung genießen Eigentumsschutz, wenn sie auf nicht unerheblichen Eigenleistungen beruhen und der Existenzsicherung dienen (vgl. BVerfGE 69, 272, 301, 304; 92, 365, 405). Der Anspruch auf Arbeitslosengeld unterfällt diesem Schutz, weil er auf Beiträgen des Versicherten beruht und seiner Existenzsicherung für einen gewissen Zeitraum seiner Arbeitslosigkeit dient. Dem Eigentumschutz unterfällt aber nicht nur der bereits erworbene Anspruch auf Arbeitslosengeld, sondern auch das Anwartschaftsrecht auf Arbeitslosengeld (vgl. BVerfGE 74, 203, 213), d.h. zum Erwerb des Anspruches auf Arbeitslosengeld fehlt nur der Eintritt der Arbeitslosigkeit. Hier hatte der Kläger zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des § 127 SGB III am 24. Dezember 2003 eine Anwartschaft auf Arbeitslosengeld von 22 Monaten erworben. Diese ist dann auf 28 Monate gewachsen, weil der § 127 SGB wegen der Übergangsvorschrift des § 434 j Abs. 3 SGB III erst zum 01. Februar 2006 in Kraft getreten ist. Nach Auffassung der Kammer ist die neue Regelung des § 127 SGB III trotz der Übergangsfrist des § 434 j Abs. 3 SGB III verfassungswidrig. Aus dem vom Gesetzgeber zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgt die Notwendigkeit einer schonenden Übergangsregelung (vgl. BVerfGE 53, 336, 351; 58, 300, 351; 71, 71, 137, 144). Ob und in welchem Umfang sie notwendig ist, hängt von der Abwägung zwischen dem Ausmaß des Vertrauensschadens und der Bedeutung des gesetzlichen Anliegens für die Allgemeinheit ab (vgl. BVerfGE 70, 101, 114). Gesetzliches Anliegen der Bundesregierung war es, mit der Neuregelung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld der Frühverrentung der Arbeitnehmer entgegen zu wirken. In der Gegenäußerung der Bundesregierung (vgl. BT-Drs. 15/1637, S. 12) zur Stellungnahme des Bundesrates führt sie aus: „Zu der weit verbreiteten Frühverrentungspraxis hat insbesondere die von der früheren Bundesregierung eingeführte erhöhte Dauer des Arbeitslosengeldes von bis zu 32 Monaten für ältere Arbeitnehmer beigetragen. Im Hinblick auf den sich in bestimmten Teilarbeitsmärkten bereits abzeichnenden Fachkräftemangel und die demografische Entwicklung ist mittelfristig ein längerer Verbleib von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Erwerbsleben erforderlich. Mit dem Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt wird die Dauer des Anspruches auf Arbeitslosengeld daher grundsätzlich auf 12 und für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die das 55. Lebensjahr vollendet haben, auf höchstens 18 Monate begrenzt werden.“

Dieses gesetzliche Anliegen rechtfertigt aber nicht die drastische Kürzung der Anspruchsdauer des Arbeitslosengeldes. Stand dem über 57-Jährigen nach dem bis 31. Dezember 2003 geltenden § 127 SGB III ein Alg-Anspruch von maximal 32 Monaten zu, so beträgt nunmehr die maximale Anspruchsdauer 18 Monate. Konnte nach dem früheren § 127 SGB III bereits mit Vollendung des 45. Lebensjahres ein längerer Alg-Anspruch als 12 Monate erworben werden, so ist dies nach dem zum 01. Januar 2004 in Kraft getretenen § 127 Abs. 2 SGB III bis zur Vollendung des 55. Lebensjahres überhaupt nicht mehr möglich. Für alle Arbeitnehmer unter 55 Lebensjahren beträgt die maximale Alg-Anspruchsdauer 12 Monate. § 434 j Abs. 3 SGB III hat das In-Kraft-Treten dieser Neuregelungen nur bis zum 01. Februar 2006 hinausgeschoben. Diese generelle Übergangsfrist von 25 Monaten reicht nicht aus, um die Eigentumsverletzung zu vermeiden, wie die Bundesregierung in der Begründung ihres Regierungsentwurfs (vgl. BT-Drs. 15/1204 S. 14) meint: „Die Vorschrift gewährt Bestandsschutz zur Neuregelung der Anspruchsdauer des Arbeitslosengeldes in den Fällen, in denen bereits ein Anspruch auf Arbeitslosengeld entstanden ist, oder in denen ein Arbeitnehmer eine Anwartschaft für einen Leistungsanspruch und damit eine nach Art. 14 des Grundgesetzes eigentumsgeschützte Rechtsposition erworben hat. Die Regelung berücksichtigt damit sowohl die verfassungsrechtlichen Vorgaben für gravierende Eingriffe in den Anspruch auf Arbeitslosengeld als auch die soziale Situation der Arbeitnehmer, die innerhalb einer Übergangsfrist von zwei Jahren nach Inkrafttreten der Neuregelung arbeitslos werden. Für sie gelten die bisherigen günstigeren Regelungen zur Dauer des Anspruches auf Arbeitslosengeld weiter.“ Mit Ablauf dieser Frist wird der Eingriff in das Anwartschaftsrecht aber in vollem Umfange wirksam, ohne, dass ein Grund ersichtlich ist, warum dies nötig sein sollte. Diese allgemeine Übergangsfrist stellt gerade keine schonende Übergangsregelung dar. Mit Spellbrink in Eicher/ Schlegel, SGB III, 67. Ergänzung, Stand Juni 2006, § 127, Rdnr. 58, ist für diesen massiven Eingriff in das Arbeitslosengeld „eine großzügige und langfristige Übergangsregelung“ erforderlich. Der § 434 j Abs. 3 SGB III erfüllt diesen Anspruch nicht. Eine schonende Übergangsregelung hätte etwa so aussehen können, dass jährlich die maximale Anspruchsdauer (rechte Spalte des § 127 Abs. 2 SGB III a.F.) um einen Monat reduziert worden wäre.

Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 8. Mai 2007 – S 56 AL 1629/06
(Aktenzeichen des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht: 1 BvL 10/07)