In Schleswig-Holstein kann ein Hund nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 HundeG S-H u.A. als „gefährlich“ eingestuft werden, wenn die nachfolgenden Voraussetzungen gegeben sind:
„Erhält die zuständige Behörde einen Hinweis darauf, dass ein Hund
1. einen Menschen gebissen hat, sofern dies nicht (…) aus dem elementaren Selbsterhaltungstrieb des Hundes geschah (…), so hat sie den Hinweis zu prüfen. Ergibt die Prüfung nach Satz 1 Tatsachen, die den Verdacht rechtfertigen, dass von dem Hund eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, so stellt die zuständige Behörde fest, dass der Hund gefährlich ist. (…)„
Wie ist der Grund des „elementaren Selbsterhaltungstriebs“, der eine Einstufung als „gefährlicher Hund“ ausschliesst, nun zu interpretieren, wenn sich der Hundehalter aufgrund des Gefühls einer plötzlichen Bedrohung erschreckt und sich dies auf den Hund (was nicht ungewöhnlich ist) überträgt und dieser beisst?
Über diese Frage hatte nun das Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein in einem Beschwerdeverfahren zu entscheiden und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass eine solche Reaktion des Hundes nicht unter die Ausnahme der Vorschrift fällt, er also als „gefährlicher Hund“ von der Verwaltungsbehörde eingestuft werden konnte. Es hat damit eine entsprechende ablehnende Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts bestätigt.
Die Hundehalterin hatte darauf abgestellt, dass das Verwaltungsgericht die erforderliche Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs des elementaren Selbsterhaltungstriebes des Hundes in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr.1 HundeG S-H im Rahmen einer Gefährlichkeitsfeststellung nach § 7 Abs. 1 Satz 2 HundeG S-H nicht geleistet und seine Überzeugung nicht begründet habe. Das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass das Erschrecken der Antragstellerin die Reaktion auf das Gefühl einer plötzlichen Bedrohung gewesen sei, sodass ihrem Hund zuzugestehen sei, dass er seine bedrohte Halterin verteidige. Der Hund habe das von der Antragstellerin empfundene Gefühl des Bedrohtwerdens wahrgenommen und darauf reagiert. Bei dem Erschrecken der Halterin handele es sich nicht um ein typisches Verhalten, auf das Hunde vorbereitet werden müssten. Der Hund habe tiertypisch auf das Erschrecken der Antragstellerin reagiert.
Diese Begründung vermag nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Schleswig-Holstein die verwaltungsgerichtliche Entscheidung nicht durchgreifend in Frage zu stellen.
Unbestimmte Gesetzes- bzw. Rechtsbegriffe sind ihrem Sinngehalt nach auszulegen. Rechtsvorschriften, die unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten, müssen allerdings so gefasst sein, dass sie den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Normenklarheit und gerichtlichen Überprüfbarkeit entsprechen und der Betroffene die Rechtslage erkennen und sein Verhalten danach einrichten kann. Das Maß der erforderlichen Bestimmtheit richtet sich nach der Eigenart des zu ordnenden Lebenssachverhaltes und nach dem Normzweck. In keinem Falle fehlt einem Gesetzesbegriff die gebotene Bestimmtheit allein deshalb, weil er auslegungsbedürftig ist; die Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe anhand gesetzgeberischer Zielsetzungen ist vielmehr typische Aufgabe der Rechtsanwendungsorgane1. Die Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen ist eine Rechtsfrage und von den Verwaltungsgerichten uneingeschränkt in eigener Verantwortung zu überprüfen2.
Die Regelungen des Gesetzes nach § 1 HundeG S-H dienen dazu, Gefahren für die öffentliche Sicherheit abzuwehren, die mit dem Halten und Führen von Hunden verbunden sind. Vor diesem Hintergrund will das Gesetz einen Hund, der einen Menschen gebissen hat, lediglich u.a. dann nicht als gefährlich einstufen, wenn er dies aus einem elementaren Selbsterhaltungstrieb heraus getan hat. Unabhängig davon, ob der Begriff des elementaren Selbsterhaltungstriebes wissenschaftlich fundiert werden kann, stellt das Gesetz darauf ab, dass sich ein Hund selbst verteidigen darf, der Biss also einer Situation entspringt, in der sich der Hund angegriffen, bedrängt, eingesperrt oder auf andere Weise bedroht fühlt3.
Das Verwaltungsgericht geht danach zu Recht davon aus, so das Oberverwaltungsgericht, dass es nach der Wertung des Gesetzgebers im vorliegenden Fall nicht zu einem Biss hätte kommen dürfen, weder das Erschrecken der Antragstellerin noch das ihres Hundes rechtfertige den sofortigen Biss eines anderen Menschen. Bei dem zugrundeliegenden Sachverhalt, dem „flotten“ Vorbeigehen an dem an langer Leine geführten Hund, liegt, trotz des Erschreckens, keine tatsächliche oder vermeintliche Situation vor, bei der von einer irgendwie gearteten Bedrohungslage für die Antragstellerin oder den Hund auszugehen ist, die eine Verteidigungsreaktion des Hundes durch einen Biss gerechtfertigt erscheinen lässt3. Es mag zwar eine tiertypische Reaktion vorliegen, indes verwirklicht sich gerade in dem zu betrachtenden Geschehen die Gefahr, der mit dem HundeG S-H begegnet werden soll und die eine Feststellung der Gefährlichkeit des Hundes rechtfertigt.
Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, Beschluss vom 25.06.2021 – 4 MB 25/21
ECLI:DE:OVGSH:2021:0625.4MB25.21.00