Wenn ein Schriftstück sicher zugestellt werden soll, bedienen sich Gerichte, Behörden und Gerichtsvollzieher der Postzustellungsurkunde, des vielen bekannten „gelben Umschlags“. Dies insbesondere auch deshalb, weil vom Datum der Zustellung der Lauf etwaiger Fristen abhängt.
Diese Möglichkeit ist auch gesetzlich in § 128 ZPO geregelt:
(1) Zum Nachweis der Zustellung nach den §§ 171, 177 bis 181 ist eine Urkunde auf dem hierfür vorgesehenen Formular anzufertigen. Für diese Zustellungsurkunde gilt § 418.
(2) Die Zustellungsurkunde muss enthalten:
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- die Bezeichnung der Person, der zugestellt werden soll,
- die Bezeichnung der Person, an die der Brief oder das Schriftstück übergeben wurde
- im Falle des § 171 die Angabe, dass die Vollmachtsurkunde vorgelegen hat,
- im Falle der §§ 178, 180 die Angabe des Grundes, der diese Zustellung rechtfertigt und wenn nach § 181 verfahren wurde, die Bemerkung, wie die schriftliche Mitteilung abgegeben wurde,
- im Falle des § 179 die Erwähnung, wer die Annahme verweigert hat und dass der Brief am Ort der Zustellung zurückgelassen oder an den Absender zurückgesandt wurde,
- die Bemerkung, dass der Tag der Zustellung auf dem Umschlag, der das zuzustellende Schriftstück enthält, vermerkt ist,
- den Ort, das Datum und auf Anordnung der Geschäftsstelle auch die Uhrzeit der Zustellung,
- Name, Vorname und Unterschrift des Zustellers sowie die Angabe des beauftragten Unternehmens oder der ersuchten Behörde.
Um den Beweiswert des Zustellungsdatums, das in einer solchen Postzustellungsurkunde bescheinigt wird, ging es auch in einem nun vom Finanzgericht Münster entschiedenen Fall.
In dem entschiedenen Fall reichten dem Finanzgericht auch die Aussagen von von sieben Mitarbeitern der betroffenen Steuerberatungsgesellschaft als Zeugen nicht aus, um die Überzeugung gewinnen können, dass die Postzustellungsurkunde unrichtig errichtet worden war.
Im Einzelnen:
Die Beteiligten stritten in formaler Hinsicht über die rechtzeitige Erhebung der Klage gegen Umsatzsteuerfestsetzungen.
Mit Einspruchsentscheidungen vom 11.5.2021 wies der Beklagte die Einsprüche gegen die Umsatzsteuer 2014 und 2015 und gegen die Zinsen zur Umsatzsteuer 2014 und 2015 jeweils unter Aufrechterhaltung der in den zugrundeliegenden Bescheiden enthaltenen Vorläufigkeitsvermerke als unbegründet zurück. Die Klägerin habe die Einsprüche nicht begründet, Rechtsfehler seien bei der von Amts wegen vorzunehmenden Überprüfung nicht zutage getreten.
Die Einspruchsentscheidungen wurden der damaligen steuerlich Bevollmächtigten der Klägerin, der G Steuerberatungsgesellschaft mbH, A-Str. 83, 00000 F, mit Postzustellungsurkunde zugestellt. Ausweislich der Postzustellungsurkunde vom 14.5.2021 wurden die beiden Schriftstücke zusammen in einem Umschlag, nachdem eine Übergabe nicht möglich war, an diesem Tage in den zum Geschäftsraum gehörenden Briefkasten oder eine ähnliche Vorrichtung eingelegt. Die steuerlich Bevollmächtigte der Klägerin hat die Einspruchsentscheidung vom 11.5.2021 betreffend die Umsatzsteuer 2014 und 2015 mit einem auf den 17.5.2021 datierenden Eingangsstempel versehen.
Am 17.6.2021 hat die Klägerin, zu diesem Zeitpunkt noch vertreten durch die G Steuerberatungsgesellschaft mbH, Klage erhoben. Die Klägerin ist der Ansicht, die angegriffenen Bescheide seien im Zeitpunkt der Klageerhebung nicht bereits bestandskräftig gewesen. Die Einspruchsentscheidung sei ausweislich des Posteingangsstempels am 17.5.2021 zugegangen. Die Postzustellungsurkunde sei sachlich unrichtig. Das Büro der G Steuerberatungsgesellschaft mbH sei am 14.5.2021 ausweislich der kanzleiinternen Zeiterfassung in der Zeit von 7:00 Uhr bis 19:00 Uhr durchgehend besetzt gewesen. Als erster Mitarbeiter sei Herr L um 07:00 Uhr vor Ort eingetroffen, als letzte Mitarbeiterin habe Frau H – die ab 09:30 Uhr ununterbrochen im Büro gewesen sei – gegen 19:00 Uhr die Kanzleiräume verlassen. Im Tagesverlauf seien daneben Herr A (ab 07:50 Uhr), Herr R (ab 08:15 Uhr), Herr T (ab 08:25 Uhr), Herr C (ab 08:40 Uhr) und Frau N (ab 09:30 Uhr) anwesend gewesen. Die Klingelanlage mit der bereits an der zur Straße gelegenen Hauswand vorhandenen Klingel sowie den weiteren Klingeln sei so laut, dass sie in jedem Büro der G Steuerberatungsgesellschaft mbH zu hören sei. Die Klingelglocke befinde sich an der Eingangstür. Während der gesamten Zeit am 14.5.2021 habe es kein Klingeln gegeben, das unbeantwortet oder ignoriert geblieben wäre. Auch habe es kein Klingeln gegeben, bei dem keine Person erschienen sei. Insbesondere das Büro von Frau H befinde sich circa zwei bis fünf Meter von der Glocke entfernt. Insoweit sei zu betonen, dass am 14.5.2021 mit Ausnahme der Eingangstüre und der Türen der Toiletten noch keine Bürotüren eingebaut gewesen seien. Diese seien erst am 26.5.2021 geliefert worden. Eine persönliche Zustellung am 14.5.2021 sei damit zwischen 7:00 Uhr und 19:00 Uhr möglich gewesen, jedoch nicht unternommen worden. Die Briefkästen der G Steuerberatungsgesellschaft mbH seien am 14.5.2021 zudem gegen 11:30 Uhr und zwischen 13:30 Uhr und 14:00 Uhr geleert worden, ohne dass die Einspruchsentscheidungen von Herrn C vorgefunden worden wären. Eine Zustellung vor 7:00 Uhr sei unzulässig, eine Zustellung nach 19:00 Uhr wäre außerhalb der gewöhnlichen Geschäftszeiten erfolgt und damit nicht vor dem 17.5.2021 als erfolgt anzusehen. Mangels Angabe einer Uhrzeit in der Postzustellungsurkunde sei der Vorgang nicht weitergehend nachvollziehbar.
Nach der Kanzleiorganisation erfolge die Postbearbeitung dergestalt, dass die Briefpost nach der Leerung des Briefkastens geöffnet und mit dem Datumsstempel versehen werde. Die Post werde sodann der Kanzleileitung zur Sichtung vorgelegt und im Anschluss in DATEV DMS gescannt und an die Sachbearbeiter verfügt. Die Original-Schriftstücke würden in die persönlichen Postfächer gelegt. Bei Zustellungen würden die Briefumschläge stets zu dem Original-Schriftstück geheftet. Bei einfachen Briefen werde auf das Datum des Poststempels geachtet. Bei einer verlängerten Postlaufzeit werde dies vermerkt und der Briefumschlag ebenfalls vorgelegt. Die Bedeutung der ordnungsgemäßen Post- und Fristenerfassung sei allen Kanzleimitarbeitern bekannt und funktioniere sehr zuverlässig. Im Zeitraum vom 14.5.2021 bis 18.5.2021 sei der langjährige Mitarbeiter und berufserfahrene Steuerfachangestellte Herr L mit der Post- und Fristenerfassung betraut gewesen. Die Einspruchsentscheidung sei mit einem Posteingangsstempel vom 17.5.2021 versehen worden. Das Schreiben sei ohne den dazugehörigen Umschlag am Vormittag des 18.5.2021 in DATEV DMS durch die Mitarbeiterin Frau O eingepflegt worden. Die Frist sei ausgehend vom Eingangsstempel auf den 17.6.2021 notiert worden. Der Einspruchsentscheidung sei kein Vermerk über die Art der Zustellung zu entnehmen gewesen. Es habe damit kein Anlass bestanden, das Eingangsdatum zu hinterfragen.
Das Finanzgericht Münster hat in der Sache mündlich verhandelt und als Zeugen die derzeitigen und ehemaligen Mitarbeiter der G Steuerberatungsgesellschaft mbH N, Rechtsanwältin H, Steuerberaterin S, A, C, L und R vernommen.
Die Entscheidung:
Das Finanzgericht Münster ist zu dem Ergebis gelangt, dass die Klage unzulässig ist.
Nach § 47 Abs. 1 FGO ist die Klage innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf zu erheben. Die am 17.6.2021 erhobene Klage vermochte diese Klagefrist jedoch nicht zu wahren, da die Klagefrist am 15.5.2021 (Samstag) zu laufen begann und mit Ablauf des 14.6.2021 (Montag) endete, §§ 47 Abs. 1 Satz 1 , 54 Abs. 1 FGO, § 222 Abs. 1 ZPO, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 Alt. 1 BGB. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nicht zu gewähren.
Die Einspruchsentscheidungen vom 11.5.2021 sind gemäß § 122 Abs. 5 der Abgabenordnung (AO) in Verbindung mit § 3 des Verwaltungszustellungsgesetzes des Bundes (VwZG) mit Postzustellungsurkunde zugestellt worden. Nach dieser Urkunde sind die Einspruchsentscheidungen vom 11.5.2021 am 14.5.2021 im Wege der Ersatzzustellung nach § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG in Verbindung mit § 180 Satz 1 ZPO durch Einlegen der Schriftstücke in einen zu dem Geschäftsraum gehörenden Briefkasten zugestellt worden, nachdem eine Übergabe in den Geschäftsräumen an eine dort beschäftigte Person nach § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO nicht erfolgen konnte.
Nach Auffassung des Finanzgerichts Münster erbringt die Postzustellungsurkunde vom 14.5.2021 den vollen Beweis über den vorgenannten Zustellvorgang. Nach §§ 182 Abs. 1, 418 ZPO wird der Zustellvorgang durch eine ordnungsgemäß errichtete Postzustellungsurkunde bewiesen. Gemäß § 182 Abs. 2 ZPO muss die Postzustellungsurkunde zu ihrer wirksamen Errichtung bestimmte, dort abschließend genannte Angaben enthalten. Die Postzustellungsurkunde vom 14.5.2021 ist ordnungsgemäß errichtet worden. Sie lässt keine Errichtungsmängel erkennen und enthält sämtliche nach § 182 Abs. 2 ZPO erforderlichen Angaben. Soweit der Bevollmächtigte der Klägerin hervorhebt, die Uhrzeit der Zustellung werde in der Postzustellungsurkunde nicht genannt, war diese Angabe nach § 182 Abs. 2 Nr. 7 a. E. ZPO entbehrlich. Die Angabe der Uhrzeit der Zustellung ist hiernach nur auf Anordnung der Behörde notwendig, § 3 Abs. 1 VwZG. Eine solche Anordnung traf der Beklagte ausweislich der Ziff. 1.11 der Postzustellungsurkunde vom 14.5.2021 nicht.
Der nach § 418 Abs. 2 ZPO zulässige Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsache ist im Streitfall nicht zur Überzeugungsgewissheit des Finanzgerichts Münster geführt worden.
Hiernach muss derjenige, der sich auf die Unwirksamkeit der Ersatzzustellung beruft, den Nachweis eines anderen als des beurkundeten Geschehensablaufs erbringen, sodass ein Fehlverhalten des Zustellers und eine Falschbeurkundung in der Zustellungsurkunde belegt sind. Dieser Gegenbeweis kann gemäß § 418 Abs. 2 ZPO mit Beweismitteln jeder Art und auch durch die Aussage von Zeugen geführt werden. Dabei sind an den Gegenbeweis i.S. des § 418 Abs. 2 ZPO strenge, jedoch keine überspannten Anforderungen zu stellen. Die Beweiswirkung der Postzustellungsurkunde muss vollständig entkräftet und jede Möglichkeit ausgeschlossen sein, dass die Angabe in der Urkunde richtig sein können. Soweit die Unrichtigkeit der Postzustellungsurkunde aus Hilfstatsachen folgen soll, ist der Gegenbeweis jedoch nicht erst erbracht, wenn die zur Überzeugungsgewissheit festgestellten Hilfstatsachen den zwingenden Schluss zulassen und erfordern, dass die Postzustellungsurkunde unrichtig errichtet wurde. Vielmehr ist in einer umfassenden Würdigung die Beweiskraft der Zustellungsurkunde der Beweiskraft der Gegenbeweismittel gegenüberzustellen und beide sind unter inhaltlicher Auseinandersetzung mit den zum Gegenbeweis angebotenen Beweismitteln und der von ihnen ausgehenden Überzeugungskraft gegeneinander abzuwägen. Der Gegenbeweis ist in diesem Sinne erbracht, wenn nach dem Ergebnis einer Beweisaufnahme über die Tatsachenbehauptungen des Zustellungsempfängers, wonach der Zustellungsvorgang falsch beurkundet worden sei, diesen Behauptungen bei der Beweiswürdigung mehr Glauben zu schenken ist als der Zustellungsurkunde und insoweit zur Überzeugungsgewissheit des Finanzgerichts Münster feststeht, dass die Postzustellungsurkunde im Hinblick auf die festgestellten Umstände unrichtig errichtet wurde1.
Im Streitfall ist aus Sicht des Finanzgerichts Münster nicht zur Überzeugungsgewissheit festzustellen, dass die Postzustellungsurkunde in Bezug auf den dokumentierten Versuch einer persönlichen Zustellung und einer Ersatzzustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 ZPO unrichtig errichtet wurde. Dass der Postzusteller bei der Vornahme der Ersatzzustellung durch Einlegen des Schriftstücks in einen der zu den Kanzleiräumen gehörenden Briefkasten beobachtet worden wäre, ohne zuvor eine persönliche Zustellung oder eine Ersatzzustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 ZPO zu versuchen, und infolge dessen – oder auf Grund vergleichbarer Umstände – die Unrichtigkeit der Postzustellungsurkunde unmittelbar festzustellen wäre, wird weder von der Klägerin noch von einem der in der mündlichen Verhandlung vom 22.11.2022 vernommenen Zeugen behauptet. Vielmehr möchte die Klägerin die Unrichtigkeit der Postzustellungsurkunde daraus ableiten, dass ein am 14.5.2021 in der Zeit von 7:00 Uhr bis 19:00 Uhr vom Postzusteller unternommener Zustellversuch bei der G Steuerberatungsgesellschaft mbH ausnahmslos erfolgreich gewesen wäre, weil bei Betätigung der Klingelanlage dem Postzusteller geöffnet worden wäre und er in den Räumen der G Steuerberatungsgesellschaft mbH die Einspruchsentscheidung einer zum Empfang berechtigten Person hätte übergeben können.
Dem vermochte sich das Finanzgericht Münster jedoch nicht anzuschließen. Nach Durchführung der Beweisaufnahme ist nämlich bereits nicht – wie es insoweit erforderlich wäre – festzustellen, dass in dem von der Klägerin genannten Zeitraum sichergestellt war, dass dem Postzusteller auf eine einmalige Betätigung der Klingel hin tatsächlich hinreichend schnell die Tür geöffnet worden und infolgedessen ein unternommener persönlicher Zustellversuch erfolgreich gewesen wäre. Auch aus dem Vorbringen des Zeugen C, dass sich die Einspruchsentscheidungen des Beklagten nicht am 14.5.2021 in den Briefkästen der G Steuerberatungsgesellschaft mbH befunden haben sollen, folgt nicht, dass die Postzustellungsurkunde unrichtig errichtet wurde.
Entscheidend für ein die Ersatzzustellung durch Einlegen des Schriftstücks in den Briefkasten eröffnendes Fehlschlagen der gemäß §§ 180 Satz 1, 178 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 ZPO vorrangig durchzuführenden persönlichen Zustellung und der Ersatzzustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 ZPO ist, dass der Postzusteller aus seiner Sicht bei pflichtgemäßer Durchführung der vom Gesetz vorgeschriebenen Förmlichkeiten der Zustellung die vorrangigen Formen der Zustellung tatsächlich nicht durchführen kann. Diese verlangen vom Postzusteller keine mehrfache Betätigung der Klingelanlage. Ebenso wenig ist der Postzusteller verpflichtet, einen die gewöhnlich zu erwartende Zeitspanne überdauernden, längeren Zeitraum auf ein Öffnen der Tür zu warten, so das Finanzgericht Münster. Wird dem Postzusteller auf eine einmalige Betätigung der Klingelanlage hin nicht hinreichend schnell und für ihn ersichtlich die Tür geöffnet, so trifft er zwangsläufig weder den Zustellungsadressaten noch eine zum Empfang berechtigte Person im Sinne des § 178 ZPO tatsächlich an und die Voraussetzungen einer Ersatzzustellung nach § 180 ZPO sind eröffnet. Ob zu diesem Zeitpunkt der Zustellungsadressat oder eine zum Empfang berechtigte Person in den jeweiligen Räumlichkeiten tatsächlich anwesend gewesen ist, die das Schriftstück persönlich hätte entgegennehmen können, ist unerheblich.
Dem Vorbringen der Zeugen zu den Vorgängen am 14.05.2021 kann das Finanzgericht Münster seiner Meinung nach nicht entnehmen, dass dem Postzusteller am 14.05.2021 in der Zeit von 7:00 Uhr bis 19:00 Uhr auf ein einmaliges Klingeln hin hinreichend schnell geöffnet worden wäre.
Zwar erklärte die Zeugin H, sie könne sich nicht erinnern, dass auf ein Klingen, das die Zeugin als sehr penetrant beschreibt, hin nicht reagiert worden sei, führte der Zeuge A aus, er könne nicht sagen, dass jemand geklingelt und niemand aufgemacht habe, und erklärte der Zeuge R, er könne sich nicht konkret erinnern, dass jemand bei der G Steuerberatungsgesellschaft mbH versehentlich geklingelt und nicht zu ihr gewollt habe, wobei man das Klingeln durchaus auch im Souterrain mitbekommen habe. Diesem Vorbringen vermag der erkennende Senat aber nach dem von den Zeugen in der mündlichen Verhandlung jeweils gewonnenen persönlichen Eindruck unter Berücksichtigung der weiteren Ausführungen der Zeugen nicht zu entnehmen, dass dem Postzusteller, wenn er denn die Klingelanlage betätigt hätte, auch tatsächlich schnell geöffnet worden wäre. Die Zeugen bleiben nämlich – auch unter Berücksichtigung der Bedeutung der hier fraglichen Ereignisse – eine hinreichend detaillierte und insgesamt lebensnahe Schilderung der tatsächlichen Abläufe am 14.05.2021 schuldig. So erklärte der Zeuge A, für ihn seien alle Tage gleich gewesen, an den 14.05.2021 könne er sich nicht erinnern. Der Zeuge R erklärte auf Befragen nach den konkreten Vorkommnissen am 14.05.2021 nur, er wisse weder, wie häufig am 14.5.2021 geklingelt worden sei, noch wer, wie, was an diesem Tage geschickt oder bearbeitet habe, um sodann ausweichend und losgelöst vom 14.05.2021 nur allgemein zu seiner Arbeit und den Abläufen in der Kanzlei vorzutragen. Auch die Zeugin H betonte zunächst, dass der 14.5.2021 ein normaler Arbeitstag gewesen sei, und vermochte sich im weiteren Verlauf nur punktuell an Einzelheiten des 14.05.2021 zu erinnern, nämlich dass sie für die im Urlaub befindliche Zeugin S einen dort von der Zeugin S gewonnenen Mandaten in der Kanzleisoftware erfassen und für diesen eine Vollmacht vorbereiten sollte und sie an diesem Tag einen Mandantentermin wahrgenommen habe. Zudem musste die Zeugin auf Nachfrage eingestehen, dass sie sich entgegen anfänglicher Behauptungen nicht sicher daran erinnern könne, ob sie das Büro zwischenzeitlich verlassen habe, sondern dergleichen nur aus der Zeiterfassung geschlossen habe. Dies streitet auch im Übrigen gegen die Glaubhaftigkeit der vermeintlichen Erinnerungen der Zeugin zu etwaigen konkreten Ereignissen am 14.05.2021.
Die weiteren Zeugen, soweit sie nicht – wie die Zeugin S – an diesem Tag ohnehin ortsabwesend waren, blieben ebenfalls eine detaillierte, nachvollziehbare und insgesamt lebensnahe Schilderung der Ereignisse dieses Tages schuldig – so das Finanzgericht Münster. Sie konnten auf Befragen letztlich nur ausführen, dass sie keine konkrete Erinnerung an die Ereignisse dieses Tages hätten. Dagegen vermochten sie insbesondere nicht – wie es erforderlich gewesen wäre – darzulegen, wie häufig an diesem Tag geklingelt wurde und dass bei jedem Klingeln tatsächlich die Tür geöffnet wurde oder ein Öffnen der Tür auf Grund der konkreten Geschehnisse an diesem Tag jedenfalls sichergestellt war. In diesem Sinne führte der Zeuge L nur aus, er könne nicht sagen, wie oft am 14.05.2021 geklingelt worden sei oder ob an diesem Tag Personen mehrfach Klingeln mussten, um eingelassen zu werden. Er habe die Klingel zudem nur bedient und die Tür geöffnet, wenn er gewusst habe, dass sich im oberen Bereich des Büros niemand mehr befunden habe, er selbst gerade oben gewesen oder ein zweites oder drittes Mal geklingelt worden sei. Die Zeugin N erklärte, sie könne speziell zum 14.05.2021 keinerlei Angaben machen. Es war ihr lediglich möglich, zu den allgemeinen Abläufen in der Kanzlei vorzutragen. Auch der Zeuge C konnte konkret zum 14.05.2021 nur ausführen, dass es sich um einen ganz normalen Bürotag gehandelt habe und er sich nicht mehr daran erinnern könne, wie oft an diesem Vormittag geklingelt worden sei. Es sei nicht häufig gewesen. Das Klingeln sei wegen der seinerzeit fehlenden Bürotüren in allen Räumen jedoch gut zu hören bzw. recht laut gewesen.
Ebenso wenig ist den weiteren Ausführungen der Zeugen insbesondere zu den allgemeinen Arbeitsabläufen zu entnehmen, dass nach den tatsächlichen Arbeitsabläufen sichergestellt war, dass am 14.5.2021 in der Zeit von 7:00 Uhr bis 19:00 Uhr die Tür nach erstmaliger Betätigung der Klingel tatsächlich hinreichend schnell geöffnet worden wäre, so das Finanzgericht Münster weiter.
Der Zeuge C erklärte hierzu nur, dergleichen sei „normalerweise“ der Fall. Es habe seinerzeit auch Praktikanten gegeben, die in einem zum Flur hin offenen Raum gesessen hätten. Auch habe ein Praktikant oder Lehrling am Sekretariatsarbeitsplatz gesessen, wenn die Sekretärin nicht dort gewesen sei. Wenn es geklingelt habe, habe sich auch jeder angesprochen gefühlt. Die Klingel sei recht laut gewesen. Dies genügt aus Sicht des erkennenden Senats jedoch nicht, um darzulegen, dass eine Öffnung der Tür zeitnah zum Klingeln in jedem Fall tatsächlich sichergestellt war. Unabhängig hiervon blieb der Zeuge auch eine weitergehende Substantiierung seines Vorbringens und eine lebensnahe Schilderung derjenigen tatsächlichen Umstände schuldig, die gewährleisten sollten, dass die Tür normalerweise schnell geöffnet wurde.
Auch die Zeugen N und A blieben eine substantiierte, detailreiche und lebensnahe Schilderung derartiger tatsächliche Arbeitsabläufe schuldig. Das Vorbringen der Zeugin N erschöpfte sich darin, dass auch sie an Freitagen die Tür und den Buzzer bedient habe, wenn es geklingelt habe. Ebenso habe sie an anderen Tagen die Tür bedient, wenn sie die Türklingel gehört habe. Die Praktikanten seien jedoch nicht speziell hierfür zuständig gewesen. Jeder habe die Türklingel bedient, wenn er sie gehört habe. Der Zeuge A erklärte ebenso nur, es sei seine Aufgabe gewesen, die Klingel zu bedienen, wenn das Sekretariat nicht besetzt gewesen sei. Das habe er dann auch gemacht. Er habe selbst nie im Sekretariat gesessen, sondern in dem rechten unteren Zimmer, in der Nähe der Klingel. Er könne nicht sagen, dass geklingelt worden sei und niemand aufgemacht habe.
Die Zeugen H, R, L und S trugen schließlich in verschiedener Form selbst Sachverhalte vor, aus denen folgt, dass ein schnelles Öffnen der Tür auf ein erstmaliges Klingeln hin gerade nicht gewährleistet war. So führte die Zeugin H im Zuge ihrer Zeugenvernehmung aus, dass die Zeugin S durchaus verärgert gewesen sei, wenn nicht sofort auf ein Türklingeln hin – das sehr penetrant gewesen sei – reagiert worden sei, weshalb sie in solchen Fällen selbst zur Tür gegangen sei. Ebenso – wie die Zeugin in diesem Zusammenhang betonte – sei es durchaus vorgekommen, dass auch sie selbst die Tür aufgemacht, Pakete angenommen oder im Flur geschaut habe, wer dort geklingelt und vor der Tür gestanden habe. Auch der Zeuge R erklärte im Zuge seines Vorbringens, er könne Frau S noch „schreien“ hören, dass sich einer um die Klingel – die man durchaus mitbekommen habe – kümmern möge, wenn sie einmal da gewesen sei. Der Zeuge L wiederum führte aus, er habe zwar die Klingel bedient, wenn er noch alleine gewesen sei. Er sei dann jeweils aus dem Souterrain nach oben zur Klingelanlage gegangen. Im Laufe des Tages jedoch, habe er die Klingel nur bedient, wenn er oben gewesen sei oder er gehört habe, dass ein zweites oder drittes Mal geklingelt worden sei. Dann sei er hochgelaufen und habe die Klingel bedient. Das könne schon passieren. In diesem Sinne betonte die Zeugin S, dass sie recht verärgert gewesen und laut geworden sei, wenn ein Mandant das zweite Mal habe klingeln müssen, bevor die Klingelanlage bedient worden sei. Sie gehe ggf. selbst zur Tür, wenn ein Mandant das zweite Mal habe klingeln müssen, und habe die Mitarbeiter angehalten, auf das erste Türklingeln zu reagieren. Sie selbst und die Zeugin H hätten aber auch bei Bedarf die Tür geöffnet.
Soweit die Klägerin darüber hinaus mit Schriftsatz vom 17.6.2022 Lichtbilder sowie einen Grundriss der Räumlichkeiten der G Steuerberatungsgesellschaft mbH vorgelegt hat, folgt hieraus nichts anderes. Den gefertigten Lichtbildern und dem Grundriss vermag der erkennende Senat nur die Lage der Räumlichkeiten zu entnehmen. Hieraus folgt jedoch auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Zeugen nicht, dass am 14.5.2021 in der Zeit von 7:00 Uhr bis 19:00 Uhr sichergestellt gewesen ist, dass die Tür nach erstmaliger Betätigung der Klingel tatsächlich hinreichend schnell geöffnet wurde.
Einer weiteren Beweiserhebung zu der Behauptung, dass am 14.5.2021 in der Zeit von 7:00 Uhr bis 19:00 Uhr sichergestellt gewesen ist, dass die Tür nach erstmaliger Betätigung der Klingel tatsächlich hinreichend schnell geöffnet worden wäre, bedurfte es im Streitfall nach Auffassung des Finanzgerichts Münster nicht.
Finanzgericht Münster, Urteil vom 22.11.2022 – 15 K 1593/21 U,AO
ECLI:DE:FGMS:2022:1122.15K1593.21U.AO.00
Anmerkung von Schlosser Rechtsanwälte:
So oder so ist es klar, dass man solche Post aufmachen muss und sie nicht ignorieren darf. Wenn eine „gelber Umschlag“ kommt, muss man sich kümmern.
Die Entscheidung des Finanzgerichts Münster zeigt allerdings leider wieder (auch wenn der Vortrag der Steuerberatungsgesellschaft in dem konkreten Fall vielleicht nicht ausreichend gewesen sein mag), dass die Gerichte den Beweiswert von Postzustellungsurkunden sehr hochhalten. Dass Postzustellungsurkunden de facto seh häufig falsch ausgefüllt werden, weiss jeder, der damit zu tun hat. Leider hängen – wie auch diese Entscheidung zeigt – die Früchte sehr hoch, wenn man den Veweiswert entkräften will.
- BFH, Beschluss vom 23.11.2016 – IV B 39/16, BFH/NV 2017, 333; BFH, Urteil vom 28.07.2015 – VIII R 50/13; BFH, Beschlüsse vom 04.07.2008 – IV R 78/05, BFH/NV 2008, 1860; vom 31.08.2000 – VII B 181/00, BFH/NV 2001, 318; vom 11.06.1997 – XI B 177/96, BFH/NV 1997, 819; vom 24.05.1993 – V B 33/93, BFH/NV 1994, 133 [↩]