Den Bescheid einer Behörde nicht bekommen und daher eine Rechtsmittelfrist versäumt? Bei dieser Behauptung wird es häufig schwer.
Nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekanntgegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.
Fakt ist aber: Behauptet der Empfänger, den Verwaltungsakt erst später erhalten zu haben, so muss er nach ständiger Rechtsprechung – vereinfacht gesagt – konkrete Anhaltspunkte darlegen, warum und dass er den Verwaltungsakt nicht nach den 3 Tagen erhalten hat, die das Gesetz für den Postlauf zunächst einmal annimmt.
Das ist immer schwer. Es wird schlicht davon ausgegangen, dass Post – auch von Behörden – innerhalb von mindestens drei Tagen auch zugeht. Die Post ist schliesslich zuverlässig und hierzu verpflichtet. Punkt. Die Zugangsfiktion ist eine heilige Kuh, die zum Einen den Behören nutzt und zum Anderen noch aus den Zeiten der Deutschen Bundespost mit verbeamteten Mitarbeitern stammt (denen man zumindest nominal noch eine gewisse Zuverlässigkeit zugesagt hat – was auch nicht ganz falsch war).
Nun hatte sich der Bundesfinanzhof in einem solchen Fall damit zu beschäftigt, wie solcherlei Vermutungen bei der Beauftragung eines privaten Postdienstleisters anzuwenden sind – zumal, wenn ein solcher noch einen Subunternehmer beschäftigt.
Zunächst einmal hat der Bundesfinanzhof entschieden, dass unter „Aufgabe zur Post“ i.S. des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO auch die Übermittlung eines Verwaltungsakts durch einen privaten Postdienstleister erfasst ist.
Sodann stellt er in derselben Entscheidung aber fest, dass die Einschaltung eines privaten Postdienstleisters sowie die weitere Einschaltung eines Subunternehmers für die Zugangsvermutung innerhalb der Dreitagesfrist von Bedeutung sein können, weil hierdurch möglicherweise ein längerer Postlauf gegeben ist. In diesen Fällen sei zu prüfen, ob nach den bei den privaten Dienstleistern vorgesehenen organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen regelmäßig von einem Zugang des zu befördernden Schriftstücks innerhalb von drei Tagen ausgegangen werden kann.
Aber im Einzelnen:
Nach § 47 Abs. 1 FGO beträgt die Frist für die Erhebung der Anfechtungsklage einen Monat; sie beginnt mit der Bekanntgabe der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf. Die Entscheidung kann auch durch die Post übermittelt werden (§ 366 AO i.V.m. § 122 Abs. 2 AO). Die Entscheidung gilt gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn sie nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.
Bestreitet der Steuerpflichtige nicht den Zugang des Schriftstücks überhaupt, sondern behauptet er lediglich, es nicht innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO erhalten zu haben, hat er sein Vorbringen im Rahmen des Möglichen zu substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen. Er muss Tatsachen vortragen, die den Schluss zulassen, dass ein anderer Geschehensablauf als der typische – Zugang binnen dreier Tage nach Aufgabe zur Post – ernstlich in Betracht zu ziehen ist. Es genügt nicht schon einfaches Bestreiten, um die gesetzliche Vermutung über den Zeitpunkt des Zugangs des Schriftstücks zu entkräften. Es müssen vielmehr Zweifel berechtigt sein, sei es nach den Umständen des Falles, sei es nach dem schlüssig oder jedenfalls vernünftig begründeten Vorbringen des Steuerpflichtigen1. Das Erfordernis eines substantiierten Tatsachenvortrags darf allerdings nicht dazu führen, dass die Regelung über die objektive Beweislast, die nach dem Gesetz die Behörde trifft, zu Lasten des Steuerpflichtigen umgekehrt wird2.
Hat der Kläger seinen Vortrag im Rahmen des ihm Möglichen substantiiert, hat das Finanzgericht die Frage, ob „Zweifel“ daran bestehen, dass ihm die Einspruchsentscheidung innerhalb der Dreitagesfrist zugegangen ist, „nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung“ zu beantworten (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO). Dies schließt ein, dass die richterliche Überzeugung ihre Grundlage in dem Gesamtergebnis des Verfahrens haben muss. Das Gebot „freier“ Überzeugungsbildung verpflichtet damit das FG dazu, sich zunächst die geeigneten Grundlagen zu verschaffen, um sich darauf eine derartige Überzeugung bilden zu können. Hierzu gehört eine angemessene Aufklärung des maßgeblichen Sachverhalts (§ 76 FGO). Das Gericht darf insoweit Umstände, die zum Gegenstand des Verfahrens gehören, nicht ohne zureichenden Grund ausblenden. Der Zugang bleibt mithin Gegenstand der Sachaufklärungspflicht des Finanzgerichts.
Unter welchen näheren Voraussetzungen ein Gericht von der Bekanntgabe innerhalb des Dreitageszeitraums nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO überzeugt ist oder ob noch Zweifel am Zugang bestehen, lässt sich nicht allgemeingültig bestimmen, sondern ist Inhalt der jeweiligen tatrichterlichen Überzeugungsbildung3. Diese ist grundsätzlich nach § 118 Abs. 2 FGO für die Rechtsmittelinstanz bindend. Sie kann im Revisionsverfahren nur darauf hin überprüft werden, ob das Finanzgericht von einem unzureichend aufgeklärten Sachverhalt ausgegangen ist oder mit seiner Sachverhaltswürdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat4.
Die vom Finanzgericht Münster5 im Streitfall vorgenommene Würdigung ist nach Auffassung des Bundesfinanzhofs auch unter Berücksichtigung dieses eingeschränkten Prüfungsmaßstabs zu beanstanden. Das Finanzgericht Münster hat – so der Bundesfinanzhof – verfahrensfehlerhaft nähere Ermittlungen zum Zeitpunkt des Zugangs der streitgegenständlichen Einspruchsentscheidung unterlassen, obwohl sich entsprechende Ermittlungen aufdrängen mussten und ist insoweit zu Unrecht von der Zugangsfiktion nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO ausgegangen.
Zwar hat das Finanzgericht Münster zutreffend festgestellt, dass die Familienkasse die Einspruchsentscheidung am 06.11.2015 zur Post aufgegeben hat, indem diese dem Subunternehmer des privaten Zustelldienstes X übergeben wurde. Unter „Aufgabe zur Post“ i.S. des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO wird auch eine Übermittlung des Verwaltungsakts durch einen privaten Postdienstleister erfasst, so dass der Tag der Aufgabe zur Post nicht hinausgeschoben wird. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass das Finanzgericht Münster nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens unter Berücksichtigung der von der Familienkasse geschilderten Vorkehrungen zur Postversendung von einer „Aufgabe zur Post“ der Einspruchsentscheidung am 06.11.2015 ausgegangen ist.
Im vorliegenden Fall ergeben sich aber aus den besonderen Umständen des Falles Zweifel an dem typischen Geschehensablauf, dass das Schriftstück am dritten Tag nach Aufgabe zur Post (in C) den Empfänger (den Kläger in B) erreichen konnte. Zwar trifft es zu, dass es regelmäßig zunächst nur im Verantwortungsbereich des Absenders liegt, das zu befördernde Schriftstück den postalischen Bestimmungen entsprechend rechtzeitig zur Post zu geben, sodass es nach den organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen des Postdienstleisters den Empfänger innerhalb eines Dreitageszeitraums erreicht6. Die Zugangsfiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO kann sich dabei weiter auch auf schriftliche Verwaltungsakte erstrecken, die durch lizenzierte private Postdienstleister – zu denen auch der Postdienstleister X gehört – übermittelt werden, da die Zuverlässigkeitsprüfung durch die Regulierungsbehörde die Vermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO gewährleisten kann7. Zu beachten ist aber, dass im Rahmen der Lizenzierung die Einhaltung konkreter Postlaufzeiten nicht geprüft wird8. Daher ist grundsätzlich zu ermitteln, so der Bundesfinanzhof weiter, ob nach den bei dem privaten Dienstleister vorgesehenen organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen regelmäßig von einem Zugang des zu befördernden Schriftstücks innerhalb von drei Tagen ausgegangen werden kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn neben dem privaten Zustelldienst, der wie die X bei bundesweiten Zustellungen regelmäßig nur über Verbundgesellschaften tätig wird, ein weiteres Dienstleistungsunternehmen zwischengeschaltet wird. Insoweit kann die Einschaltung privater Postdienstleister bei der Frage von Bedeutung sein, ob die Zugangsvermutung als widerlegt gilt, weil hierdurch möglicherweise ein längerer Postlauf die Folge ist.
Der Kläger hat auf diese besonderen Umstände im Streitfall hingewiesen. Weitere Ausführungen, um die Zugangsfiktion zu erschüttern, sind nach Ansicht des Bundesfinanzhofs bei der hier vorliegenden Sachverhaltskonstellation nicht erforderlich. Dem Begriff des Zweifels entspricht es, dass auch unbewiesene Tatsachen dieser Art die Nachweispflicht der Behörde auslösen9. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die einzelnen organisatorischen und betrieblichen Abläufe bei dem von der Behörde in Anspruch genommenen Dienstleister im behördlichen Verantwortungs- und Risikobereich liegen.
Bei dieser Sachlage und im Hinblick auf den auf einen Freitag fallenden Postaufgabetag hätte das Finanzgericht Münster nach Auffassung des Bundesfinanzhofs den organisatorischen und betrieblichen Ablauf beim Postdienstleister und seinem Subunternehmer weiter aufklären müssen.
Im Streitfall ist insbesondere nicht bekannt, ob und wann das möglicherweise nur regional tätige Subunternehmen die von der Familienkasse empfangenen Schreiben an den privaten Postdienstleister X weitergeleitet hat. Weiterhin ist ungeklärt, ob der zwischen der X und der Familienkasse geschlossene Zustellvertrag bei Einschaltung eines Subunternehmers die zeitnahe Zustellung ihm übergebener Briefsendungen auch überregional sichert. Der bisher festgestellte Sachverhalt gibt keinen Aufschluss über die organisatorischen und zeitlichen Beförderungsabläufe. Der Familienkasse obliegt eine gewissenhafte Prüfung, ob eine Zustellung innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO durch den hier gewählten privaten Postdienstleister mit jedenfalls gleich hoher Verlässlichkeit zu erwarten ist wie bei einer Versendung im Rahmen des Postuniversaldienstes10. Das Subunternehmen ist auch kein Universalanbieter für Postdienstleistungen, für die die Post-Universaldienstleistungsverordnung (PUDLV) vom 15.12.199911 und die darin eingeforderten Qualitätsmerkmale für die Briefbeförderung (§ 2 PUDLV) Anwendung finden. Die Zugangsvermutung würde beispielsweise nicht eingreifen, wenn die Behörde einen privaten Postdienstleister beauftragt und dieser erst einen Tag nach Erhalt der Sendung diese an ein weiteres Unternehmen zur Weiterbeförderung weiterleitet12.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 14.06.2018 – III R 27/17
ECLI:DE:BFH:2018:U.140618.IIIR27.17.0
- BFH, Urteil vom 03.05.2001 – III R 56/98, BFH/NV 2001, 1365 [↩]
- BFH, Urteil vom 11.07.2017 – IX R 41/15, BFH/NV 2018, 185 [↩]
- BFH, Urteil vom 31.10.2000 – VIII R 14/00, BFHE 193, 392, BStBl. II 2001, 156 [↩]
- BFH, Urteil vom 12.03.2003 – X R 17/99, BFH/NV 2003, 1031 [↩]
- FG Münster vom 30.03.2017 – 13 K 3907/15 Kg [↩]
- BVerfG, Beschluss vom 04.04.2000 – 1 BvR 199/00 [↩]
- Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 05.09.2014 – 3 A 722/12 [↩]
- Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 21.08.2017 – L 2 R 49/17 [↩]
- BFH, Urteil vom 07.11.1985 – V R 3/83 [↩]
- BFH, Beschluss vom 04.09.2008 – I R 41/08; Landessozialgericht Niedersachsen, Urteil vom 21.08.2017 – L 2 R 49/17 [↩]
- BGBl. I 1999, 2418 [↩]
- FG Baden-Württemberg, Urteil vom 27.02.2013 – 2 K 3274/11; BFH, Beschluss vom 25.03.2015 – V B 163/14, BFH/NV 2015, 948 [↩]