In einem jetzt bekannt gewordenen Beschluss, in dem der Bundesfinanzhof über die Aussetzung der Vollziehung eines Einkommensteuerbescheides für 2001 entscheiden musste, äußert der BFH ernstliche Zweifel daran, ob die Besteuerung des Gewinns des Antragstellers aus der Veräußerung ausländischer Kapitalanteile nach § 17 EStG n.F. in 2001 mit der Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 56 EGV vereinbar ist:
Es bestehen ernstliche Zweifel, ob die Anwendungsvorschriften zu § 17 EStG i.d.F. des StSenkG 2001/2002 vom 23. Oktober 2000 in § 52 Abs. 1 EStG i.d.F. des StSenkG 2001/2002 vom 23. Oktober 2000 und in § 52 Abs. 34 a EStG i.d.F. des StEuglG vom 19. Dezember 2000 mit der Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 56 EGV vereinbar sind.
Art. 56 EGV verbietet Beschränkungen des Kapitalverkehrs sowohl zwischen den Mitgliedstaaten als auch zwischen Mitgliedstaaten und dritten Ländern. Eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit stellt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) jede Steuerregelung dar, die zwischen Steuerpflichtigen nach dem Ort ihrer Kapitalanlage unterscheidet (EuGH-Urteil „Manninen“). Die Übertragung von Kapitalanteilen wird von der Kapitalverkehrsfreiheit dabei mitgeschützt (EuGH-Beschluss „De Baeck“; EuGH-Urteil „X und Y“). Vorliegend unterscheidet die Anwendungsregelung zu § 17 EStG n.F. in § 52 Abs. 1 und 34 a EStG zu Ungunsten des Steuerpflichtigen nach dem Ort der Kapitalanlage, da die Veräußerung von Anteilen an ausländischen Kapitalgesellschaften anders behandelt wird als die Veräußerung von Anteilen an inländischen Kapitalgesellschaften.
Eine Beschränkung kann nicht deshalb verneint werden, weil § 17 EStG n.F. nach § 52 Abs. 1 und 34 a EStG ausnahmsweise ab dem 1. Januar 2001 auch für inländische Beteiligungen galt, wenn die Anteile im Kalenderjahr 2001 zu einem Zeitpunkt veräußert wurden, nachdem die Kapitalgesellschaft ihr dem Kalenderjahr entsprechendes Wirtschaftsjahr im Einvernehmen mit dem Finanzamt (§ 4a Abs. 1, Satz 2 Nr. 2 Satz 2 EStG, § 8b Satz 2 Nr. 2 Satz 2 EStDV) durch Hauptversammlungsbeschluss mittels Bildung eines Rumpfwirtschaftsjahres auf ein vom Kalenderjahr abweichendes Wirtschaftsjahr umgestellt hatte. Da die Anwendung von § 17 EStG n.F. auf Auslandsbeteiligungen nach § 52 Abs. 1 und 34 a EStG nicht vom Wirtschaftsjahr der ausländischen Körperschaft abhängig ist, ist eine Unterscheidung nach dem Ort der Kapitalanlage gleichwohl gegeben.
Eine diskriminierende Behandlung des Steuerpflichtigen wäre zwar auszuschließen, wenn die (hier: italienische) Aktiengesellschaft, deren Anteile der Steuerpflichtige im Veranlagungszeitraum 2001 veräußerte, ihr dem Kalenderjahr entsprechendes Wirtschaftsjahr nach (hier: italienischem) Recht ab dem 1. Januar 2001 mittels Bildung eines Rumpfwirtschaftsjahres auf ein vom Kalenderjahr abweichendes Wirtschaftsjahr umgestellt und der Steuerpflichtige seine Anteilsrechte in der auf das Kalenderjahr 2001 entfallenden Zeitspanne des Wirtschaftsjahrs 2001/02 veräußert hätte. Dies war in dem jetzt vom BFH entschiedenen Fall von den Beteiligten jedoch nicht vorgetragen worden.
Für das Eingreifen des Diskriminierungsverbotes kommt es auf das Ausmaß der Ungleichbehandlung auf Tatbestandsebene nicht an. Auch relativ geringfügige Beschränkungen unterliegen der Rechtfertigungskontrolle (vgl. EuGH-Urteile „Kommission/Frankreich“; „van de Haar“ und „Yves Rocher“: keine „de-minimis-Klausel“). Dementsprechend findet keine Spürbarkeitsprüfung statt und es wird auch nicht nach der Intensität der Auswirkung von Beschränkungen auf den Handel in der Gemeinschaft differenziert (EuGH-Urteil „Lasteyrie du Saillant“).
Schließlich kann eine Diskriminierung des Steuerpflichtigen nicht aus dem Grund verneint, dass mit einer Umschichtung des in einer Auslandsbeteiligung gebundenen Kapitals auf eine Inlandsbeteiligung im Jahre 2001 kein finanzieller Vorteil verbunden gewesen wäre, weil die anschließende Veräußerung der Inlandsbeteiligung steuerpflichtig gewesen wäre (§§ 23 bzw. 17 EStG). Hierbei würde übersehen, dass von der Kapitalverkehrsfreiheit auch das Recht geschützt ist, einmal am Kapitalmarkt investiertes Kapital für private Konsumzwecke abzuziehen.
Diese Diskriminierung des Steuerpflichtigen ist nach der gebotenen summarischen Prüfung auch nicht zu rechtfertigen. Nach dem in der Rechtsprechung des EuGH restriktiv gehandhabten Rechtfertigungsgrund der Kohärenz ist eine Steuerregelung nur dann als kohärent anzusehen, wenn ein zwingender unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem eingeräumten Steuervorteil einerseits und der Besteuerung andererseits bei demselben Steuerpflichtigen in Bezug auf dieselbe Steuer besteht (EuGH- „Asscher“ und „Verkooijen“). Es wird eine streng funktionelle Beziehung zwischen Steuervorteilen und Steuernachteilen verlangt. Zusätzlich müssen die Regelungen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist. Zur Erreichung der mit der Maßnahme verfolgten Ziele darf es keine gleichermaßen geeignete Alternative geben, welche das kollidierende Interesse, also die betroffene Grundfreiheit des EGV, in geringerem Maße beeinträchtigt.
Diese Benachteiligung des Steuerpflichtigen ist bei summarischer Prüfung unter Zugrundelegung der neueren Rechtsprechung des EuGH auch nicht verhältnismäßig. Aus dem EuGH-Urteil in Slg. 2004, I-7477 zu finnländischen Steuergutschrift für Dividenden wird allgemein abgeleitet, dass die Ausgrenzung ausländischer EU-Kapitalgesellschaften aus dem deutschen Anrechnungsverfahren unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit ebenfalls gegen EU-Recht verstoßen habe. Demgemäß ist im Rahmen des AdV-Verfahrens davon auszugehen, dass –im Grundsatz– auch für Ausschüttungen aus einer italienischen Kapitalgesellschaft der inländische Dividendenempfänger Anspruch auf eine Steuergutschrift hatte. Ausgehend von ihrem Anrechnungsverfahren war die Bundesrepublik Deutschland hiernach verpflichtet, auch in Fällen der Ausschüttung aus einer EU-Auslandskapitalgesellschaft eine Steuergutschrift nach Maßgabe der von dieser Gesellschaft geschuldeten bzw. tatsächlich entrichteten Körperschaftsteuer, wie sie sich aus den auf die Berechnung der Besteuerungsgrundlagen anwendbaren allgemeinen Regeln und aus dem Satz der Körperschaftsteuer ergibt, zu gewähren.
Wenn die Beschränkung des Anrechnungsverfahrens auf Ausschüttungen unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtiger Kapitalgesellschaften in diskriminierender Weise gegen den EGV verstieß, so kann –jedenfalls bei summarischer Prüfung– für die in § 52 Abs. 34 a EStG vorgesehene Differenzierung im Rahmen des Übergangs zum Halbeinkünfteverfahren zwischen Anteilen an inländischen Kapitalgesellschaften und EU-Auslandskapitalgesellschaften nichts anderes gelten. Mit anderen Worten: Unter der Prämisse, dass die Ausgrenzung ausländischer EU-Kapitalgesellschaften aus dem Anrechnungsverfahren eine diskriminierende Wirkung entfaltete, muss die Entscheidung des Gesetzgebers, die erstmalige Geltung von § 17 EStG n.F. an die erstmalige Nichtgeltung des Anrechnungsverfahrens zu koppeln (§ 52 Abs. 34 a EStG), auch für EU-Auslandskapitalgesellschaften beachtet werden.
Da hierbei weiterhin die erstmalige Anwendung von § 17 EStG n.F. –ebenso wie die letztmalige Anwendung von § 17 EStG a.F.– nach § 52 Abs. 34 a EStG im Inlandsfall (Veräußerung von Anteilen an unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtigen Kapitalgesellschaften) nicht daran gebunden ist, ob im Jahre 2001 überhaupt Gewinne von der inländischen Kapitalgesellschaft offen ausgeschüttet wurden und demgemäß der Dividendenempfänger das inländische Anrechnungsverfahren in Anspruch nehmen konnte, kann es auch für die Anwendung von § 17 EStG a.F./n.F. im EU-Auslandsfall nicht darauf ankommen, ob und, wenn ja, mit welcher Vorbelastung die Aktiengesellschaft Gewinne ausgeschüttet hat oder hätte ausschütten können. Maßgeblich ist nach der unmissverständlichen Regelungskonzeption des § 52 Abs. 34 a EStG vielmehr, ob bei abstrakt-systematischer Betrachtung die Möglichkeit der Vermittlung von Anrechnungsguthaben im Rahmen des inländischen Anrechnungsverfahrens bestand. Dies aber war –wie aufgezeigt– zu bejahen, da auch nach italienischem Körperschaftsteuerrecht ausgeschüttete Gewinne des Jahres 2001 belastet sein konnten.
Im Rahmen einer summarischen Prüfung kann auch der Überlegung keine ausschlaggebende Bedeutung zukommen, dass bei schrittweisen Verbesserungen im Rahmen von Teilreformen gewisse Unstimmigkeiten, die bei Dauerregelungen nicht hinnehmbar wären, übergangsweise möglicherweise auch nach Europarecht in Kauf zu nehmen sind. Die Besteuerung von Anteilseignern inländischer und ausländischer Körperschaften ist für den Veranlagungszeitraum 2001 zwar als eine solche Teilreform zu werten, durch die einerseits –in der Gesamtschau der Besteuerung von Veräußerungsgewinnen und Dividendenerträgen– noch kein Gleichlauf der Besteuerung eintrat, die aber andererseits gegenüber den bis dahin geltenden Regelungen des nationalen Rechts, mit denen im Falle der Gewinnausschüttung überhaupt kein Ausgleich für die Vorbelastung der Dividenden mit ausländischer Körperschaftsteuer verbunden war, nach dem Willen des Gesetzgebers unter dem Gesichtspunkt der „Europatauglichkeit“ auf den Abbau von Diskriminierungen zielte. Soweit ersichtlich hatte der EuGH bislang keine Gelegenheit, zu vorübergehenden Ungleichbehandlungen dieser Art Stellung zu nehmen. Vielmehr hat er in verschiedenen Entscheidungen stets betont, dass es bei der Überprüfung von Verstößen gegen die Grundfreiheiten keine de minimis-Regel gebe. Es muss deshalb auch dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben, ob dieser Grundsatz dann einer Einschränkung unterliegen könnte, wenn der Gesetzgeber sich dazu entschließt, einen EGV-konformen Rechtszustand in Teilschritten und damit im Wege zeitlich begrenzter Übergangsregelungen herzustellen.
Schließlich können ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Einkommensteuerbescheids nicht deshalb verneint werden, weil in jüngerer Zeit vermehrt die Frage aufgeworfen wird, ob die Rechtsprechung des EuGH noch Gemeinschaftsrecht auslege (bzw. fortbilde) oder ob hierin nicht unter Berücksichtigung des Zuständigkeitsvorbehalts für das Recht der direkten Steuern (Art. 93 und 94 EGV; vgl. auch Art. 58 Abs. 1 Buchst. a i.V.m. Abs. 3, Art. 293 EGV) und damit der Steuerhoheit der Mitgliedstaaten (Art. 105 f. GG) sowie deren Finanzierungsverantwortung für die EU (Art. 269 EGV) eine Kompetenzüberschreitung seitens eines Gemeinschaftsorgans im Sinne eines sog. ausbrechenden Rechtsakts zu sehen sei. Nach Ansicht des erkennenden Senats bedürfen diese Bedenken –insbesondere im Hinblick auf die nach Ansicht des EuGH nur eingeschränkte normative Wirkungskraft des Prinzips der Kohärenz nationaler Steuersysteme– zwar einer eingehenden Prüfung, ihre abschließende Beurteilung muss jedoch — ebenso wie die hiermit ggf. verbundenen verfahrensrechtlichen Fragen — dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 14. Februar 2006 – VIII B 107/04