Bildung von Steuerrückstellungen nur in Höhe der zu erwartenden Inanspruchnahme

Das Niedersächsische Finanzgericht hat entschieden, daß Steuerrückstellungen nicht zwingend in Höhe der später festgesetzten Steuer zu bilden sind, sondern in der Höhe, in der am Bilanzstichtag mit einer Steuerfestsetzung gerechnet werden muss.

Die Klägerin, die ein Elektrizitätswerk betreibt, klagte gegen das Finanzamt aufgrund einer Änderung des Körperschaftsteuerbescheids für 2002, die auf § 174 Abs. 4 Abgabenordnung (AO) gestützt wurde.

Das Niedersächsische Finanzgericht gab der Klägerin recht, da der Beklagte sie durch den Änderungsbescheid zur Körperschaftsteuer 2002 vom 27.08.2009 in ihren Rechten verletzte, da die Umsatzsteuerrückstellung für 2002 in dem vorangegangenen Steuerbescheid 24.07.2008 zutreffend berücksichtigt war und in dem Änderungsbescheid zur Körperschaftsteuer 2002 vom 27.08.2009 zu niedrig angesetzt wurde.

Nach § 8 Abs. 1 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) i.V.m. § 5 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) hat die Klägerin das Betriebsvermögen anzusetzen, das nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung (GoB) auszuweisen ist. Die „handelsrechtlichen“ GoB ergeben sich vornehmlich aus den für alle Kaufleute geltenden Vorschriften der §§ 238 ff. des Handelsgesetzbuchs (HGB).

a) Gemäß § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB sind Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten zu bilden. Voraussetzung für die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs entweder – erstens – das Bestehen einer dem Betrage nach ungewissen, dem Grunde nach aber bestehenden Verbindlichkeit oder – zweitens – die hinreichende Wahrscheinlichkeit des künftigen Entstehens einer – ggf. zugleich auch ihrer Höhe nach noch ungewissen – Verbindlichkeit. Diese Voraussetzungen sind im Einzelfall auf der Grundlage objektiver, am Bilanzstichtag vorliegender Tatsachen aus der Sicht eines sorgfältigen und gewissenhaften Kaufmanns zu beurteilen. Dieser muss darüber hinaus ernsthaft mit seiner Inanspruchnahme rechnen müssen. Des Weiteren ist ein wirtschaftlicher Bezug der Verbindlichkeit zum Zeitraum vor dem jeweiligen Bilanzstichtag erforderlich1.

b) Nach diesen Grundsätzen hatte die Klägerin – wie zwischen den Beteiligten nicht streitig ist – dem Grunde nach eine Rückstellung für Verbindlichkeiten aus Umsatzsteuer 2002 wegen unrichtigen Steuerausweises zu bilden, da sie Rechnungen mit unrichtigem Steuerausweis erstellt hatte, für die sie nach § 14 Abs. 3 Umsatzsteuergesetz in der im Streitjahr 2002 geltenden Fassung (UStG 2002) die unberechtigt ausgewiesene Umsatzsteuer schuldete.

Die Tatsache, dass die Klägerin in der Handelsbilanz keine entsprechende Rückstellung gebildet hat, steht der steuerlichen Berücksichtigung der Rückstellung nicht entgegen. Eine Rückstellung ist in der Steuerbilanz nach § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG auch dann zu bilden, wenn sie in der Handelsbilanz zu Unrecht nicht gebildet wurde2.

c) Die Rückstellung war in der Höhe zu bilden, wie sie sich bei einer Inanspruchnahme mit Umsatzsteuer für die gesamten in Rechnung gestellten „Erdgaslieferungen“ der Klägerin ergab, also in Höhe des Betrags, der in dem Körperschaftsteuerbescheid vom 24.07.2008 berücksichtigt war. Sowohl am Bilanzstichtag (31.12.2002) als auch im Zeitpunkt der Bilanzerstellung musste die Klägerin nach den damals maßgeblichen Verwaltungsanweisungen damit rechnen, dass nach § 14 Abs. 3 UStG 2002 Umsatzsteuer auf die gesamten in Rechnung gestellten „Erdgaslieferungen“ der Klägerin festgesetzt würde.

aa) Im Streitjahr 2002 enthielt § 14 Abs. 3 UStG folgende Regelung: „Wer in einer Rechnung einen Steuerbetrag gesondert ausweist, obwohl er zum gesonderten Ausweis der Steuer nicht berechtigt ist, schuldet den ausgewiesenen Betrag. Das Gleiche gilt, wenn jemand in einer anderen Urkunde, mit der er wie ein leistender Unternehmer abrechnet, einen Steuerbetrag gesondert ausweist, obwohl er Nicht-Unternehmer ist oder eine Lieferung oder sonstige Leistung nicht ausführt.“ Eine Regelung zur Korrektur unzutreffender Steuerausweise sah das UStG seinerzeit noch nicht vor.

bb) Erst ab dem Veranlagungszeitraum 2004 wurde das Berichtigungsverfahren in § 14c UStG gesetzlich geregelt. Das hierzu ergangene BMF-Schreiben vom 29.01.20043 enthielt in Tz. 84 (a.E.) folgende Regelung: „Wurde beim Empfänger der Rechnung kein Vorsteuerabzug vorgenommen, ist der wegen unberechtigten Steuerausweises geschuldete Betrag beim Aussteller der Rechnung für den Zeitraum zu berichtigen, in dem die Steuer gem. § 13 Abs. 1 Nr. 4 UStG entstanden ist.“ (ebenso anschließend Abschnitt 190d Abs. 4 Satz 6 der Umsatzsteuer-Richtlinien 2005 – UStR 2005). Gemäß Tz. 86 des o.g. BMF-Schreibens war die vorgenannte Regelung sinngemäß auch in allen Fällen anzuwenden, in denen in einer vor dem 01.01.2004 ausgestellten Rechnung die Steuer unberechtigt ausgewiesen wurde.

Im Zeitpunkt der Bilanzerstellung für 2002 konnte die Klägerin noch nicht damit rechnen, dass eine derartige Regelung mit Rückwirkung für 2002 erlassen würde.

cc) Zwar hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits durch Urteil vom 19.09.20004 entschieden, das zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer berichtigt werden kann, wenn der Aussteller der Rechnung eine Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt hat. Die dem EuGH-Urteil nachfolgende Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 08.03.20015 wurde jedoch erst im Jahr 2004 vorbehaltlos im Bundessteuerblatt veröffentlicht. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde die vorgenannte Rechtsprechung von der Finanzverwaltung nicht allgemein anerkannt.

Der Zeitpunkt der vorbehaltlosen Veröffentlichung eines BFH-Urteils im Bundessteuerblatt hat Bedeutung für die Frage, wann zuvor von der Finanzverwaltung bestrittene Steuererstattungsansprüche zu aktivieren sind6. Auch wenn insoweit bereits EuGH- und BFH-Rechtsprechung zugunsten der Steuerpflichtigen vorliegt, hat ein Kaufmann entsprechende Umsatzsteuer-Erstattungsansprüche nach den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung spätestens zum ersten Bilanzstichtag zu aktivieren, der auf die vorbehaltlose Veröffentlichung der entsprechenden BFH-Rechtsprechung durch die Finanzverwaltung folgt6.

Diese Grundsätze sind aufgrund des bei der Bilanzerstellung zu beachtenden Vorsichtsprinzips für die Frage, in welcher Höhe eine Rückstellung wegen ungewisser Umsatzsteuerverbindlichkeiten zu bilden ist, entsprechend anzuwenden.

Der Bundesfinanzhof hat zwar ausdrücklich offen gelassen, ob eine frühere Aktivierung bereits im Zeitpunkt einer von der deutschen Finanzverwaltung unkommentierten Veröffentlichung eines EuGH-Urteils in Frage kommen kann. Dies bedarf im Streitfall ebenfalls keiner Klärung. Die deutsche Finanzverwaltung ließ das o.g. EuGH-Urteil vom 19.09.2000 zwar zunächst unkommentiert. Jedoch war mit § 14 Abs. 3 UStG im Streitjahr 2002 weiterhin ein Gesetz in Kraft, das das o.g. EuGH-Urteil noch nicht berücksichtigte. Diese Norm wurde in Abschn. 190 UStR 2002 durch Verwaltungsanweisungen ausgefüllt, die dem o.g. EuGH-Urteil teilweise widersprachen. Jedenfalls solange abweichende Verwaltungsauffassungen und eine dem EuGH-Urteil widersprechende nationale Gesetzeslage beibehalten werden, muss ein Kaufmann eine Rückstellung auf der Basis des (für ihn nachteiligen) nationalen Gesetzes und der hierzu ergangenen Verwaltungsanweisungen bilden.

dd) Die Tatsache, dass die Finanzverwaltung für Fälle eines irrtümlich unberechtigten Steuerausweises schon vor der Veröffentlichung der o.g. Urteile des EuGH und des BFH eine Rechnungsberichtigung aus sachlichen Billigkeitsgründen zugelassen hat7, führt zu keinem anderen Ergebnis. Die am Bilanzstichtag insoweit geltenden Verwaltungsanweisungen boten für die Klägerin keine hinreichende Gewähr, wann und in welcher Form derartige Berichtigungen steuerlich zu berücksichtigen waren, da sie weit unpräziser waren als § 14c UStG 2004 und das hierzu ergangene BMF-Schreiben vom 29.01.20048. Außerdem bestimmte Abschn. 190 Abs. 6 UStH 2002 – im Gegensatz zu § 14c Abs. 2 Satz 3 und 4 UStG 2004 – der Steueranspruch aus § 14 Abs. 3 UStG bestehe unabhängig davon, ob der Rechnungsempfänger die gesondert ausgewiesene Umsatzsteuer unberechtigt als Vorsteuer abgezogen habe. Auf der Grundlage dieser Verwaltungsanweisungen musste die Klägerin am 31.12.2002 aus Gründen kaufmännischer Vorsicht mit einer Inanspruchnahme wegen unberechtigt ausgewiesener Umsatzsteuer im Hinblick auf die gesamten von ihr in Rechnung gestellten „Erdgaslieferungen“ rechnen.

Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 15. März 2012 – 6 K 43/10

  1. ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, vgl. zuletzt Bundesfinanzhof, Urteil vom 21.09.2011 – I R 50/10 []
  2. Bundesfinanzhof, Beschluss vom 13.06.2006 – I R 58/05, in: BStBl. II 2006, 928 []
  3. BStBl. I 2004, 258 []
  4. Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 19.09.2000 – C-454/98 []
  5. Bundesfinanzhof, Urteil vom 08.03.2001 – V R 61/97, in: BStBl. II 2004, 373 []
  6. Bundesfinanzhof, Urteil vom 31.08.2011 – X R 19/10 [] []
  7. Bundesfinanzhof, Urteil vom 21.02.1980 – V R 146/73, in: BStBl. II 1980, 283; Abschn. 190 Abs. 3 UStH 2002 []
  8. veröffentlicht in: BStBl. I 2004, 258 []

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