Pflichtlektüre für Steuerberater

Welche Zeitschriften muß ein Steuerberater lesen? Diese Frage stellte sich dem Berliner Kammergericht in einem Schadensersatzverfahren gegen einen Steuerberater. Der Steuerberater hatte seinem Mandanten nicht empfohlen, gegen einen Steuerbescheid Einspruch einzulegen, obwohl darin Gewinne aus Spekulationsgeschäften besteuert wurden und zu diesem Zeitpunkt bereits ein Finanzgericht die Revision zum Bundesfinanzhof zugelassen hatte. Dieses Urteil war in der Zeitschrift „Entscheidung der Finanzgerichte“ (EFG) veröffentlicht worden, das Revisionsverfahren vor dem BFH war auch bereits in der quartalsmäßig veröffentlichten Anlage zum Bundessteuerblatt, in der die beim BFH, dem BVerfG und dem EuGH anhängigen Verfahren aufgenommen werden, enthalten.

Dies reichte dem Kammergericht nicht:Die EFG gehöre, so das KG, nicht zur Pflichtlektüre und die quartalsmäßige Anlage zum BStBl. sei – allein schon wegen ihres Umfangs von ca. 175 Seiten – keine Lektüre, sondern ein Verzeichnis, in dem man nachschlagen müsse, wenn aus anderen Quellen ein Anzeichen darauf ersichtlich sei, dass ein solches Verfahren vor dem BFH anhängig sein könnte.

Auch wenn das Bundessteuerblatt zur Pflichtlektüre des Steuerberaters gehört, so kann letzterem aber nicht zur Pflicht gemacht werden, die genannte Anlage jeweils in der Weise zur Kenntnis zu nehmen, dass er sämtliche „Leitsätze“ liest und sich merkt, um sie jederzeit abrufbereit im Gedächtnis zu haben. Die Liste kann vielmehr nur den Zweck haben, dass der Steuerberater, der aus anderem Zusammenhang Zweifel hinsichtlich einer Rechtsfrage hat, nachschlagen kann, um zu sehen, ob diesbezüglich ein Verfahren beim BFH (oder beim BVerfG oder Europäischen Gerichtshof) anhängig ist. Entscheidend ist insofern, ob es aus anderen Erkenntnisquellen bereits hinreichend deutliche Anzeichen auf eine bereits absehbare bestimmte Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung gibt, so dass der Steuerberater hätte voraussehen oder damit rechnen können, dass möglicherweise ein streitiges Verfahren mit der hier einschlägigen Rechtsfrage in die Revisionsinstanz gelangt ist.

Hintergrund dieses Verfahrens ist eine in der Rechtsprechung sehr weit gefasste Haftung für steuerliche Berater:

Ein Steuerberater ist im Rahmen des ihm erteilten Auftrags verpflichtet, den Mandanten umfassend zu beraten und ungefragt über alle steuerlichen Einzelheiten und deren Folgen zu unterrichten. Er hat seinen Mandanten möglichst vor Schaden zu schützen. Hierzu hat er den relativ sichersten Weg zu dem angestrebten steuerlichen Ziel aufzuzeigen und die für den Erfolg notwendigen Schritte vorzuschlagen. Die mandatsbezogen erheblichen Gesetzes- und Rechtskenntnisse muß der Steuerberater besitzen oder sich ungesäumt verschaffen. Neue oder geänderte Rechtsnormen hat er in diesem Rahmen zu ermitteln (BGH NJW 2004, 3487 mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Wegen der richtungweisenden Bedeutung, dieh öchstrichterlichen Entscheidungen für die Rechtswirklichkeit zukommt, hat er sich bei der Wahrnehmung eines Mandats grundsätzlich an dieser Rechtsprechung auszurichten. Er darf in der Regel auf ihren Fortbestand vertrauen. Das gilt insbesondere in den Fällen einer gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung, weil von einer solchen nur in besonderen Ausnahmefällen abgegangen zu werden pflegt. Auch entgegenstehende Judikatur von Instanzgerichten und abweichende Stimmen im Schrifttum verpflichten den Steuerberater dann regelmäßig nicht, bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben die abweichende Meinung zu berücksichtigen (vgl. BGH NJW 1993, 3323 zur Haftung des Rechtsanwalts mit weiteren Nachweisen). Bei hinreichend deutlichen Anzeichen auf eine bereits absehbare bestimmte Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist der Steuerberater verpflichtet, seinen Mandanten darauf hinzuweisen (BGH, NJW-RR 2006, 273). Eine Pflicht, darüber hinaus die veröffentlichte Instanzrechtsprechung und das Schrifttum sowie hierbei insbesondere die Aufsatzliteratur heranzuziehen, besteht zwar grundsätzlich nur in beschränktem Maße; strengere Anforderungen sind jedoch zu stellen, wenn ein Rechtsgebiet ersichtlich in der Entwicklung begriffen und (weitere) höchstrichterliche Rechtsprechung zu erwarten ist. Dann muß ein Anwalt, der eine Angelegenheit aus diesem Bereich zu bearbeiten hat, auch Spezialzeitschriften in angemessener Zeit durchsehen. Ihm muß dabei freilich insgesamt ein „realistischer Toleranzrahmen“ zugebilligt werden (BGH NJW 2001, 675 mit weiteren Nachweisen). Welche konkreten Pflichten aus diesen allgemeinen Grundsätzen abzuleiten sind, richtet sich nach dem erteilten Mandat und den Umständen des Falles (BGH NJW 1993, 3323 mit weiteren Nachweisen).

Kammergericht, Urteil vom 8. September 2006 – 4 U 119/05
[via Handakte WebLAWg]

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