Warum?
Der Beklagte hat der Klägerin zu Recht den Vorsteuerabzug aus den streitgegenständlichen Eingangsumsätzen versagt, da die Klägerin nicht im Besitz einer Rechnung gewesen ist.
Gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG kann der Unternehmer die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, als Vorsteuer abziehen. Diese Vorschrift beruht auf Art. 167, 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL), wonach der Steuerpflichtige, der Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet, befugt ist, die im Inland geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert oder erbracht werden, von der von ihm geschuldeten Steuer abzuziehen. Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht danach, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.
Die Ausübung des Vorsteuerabzugs setzt nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG weiter voraus, dass der Unternehmer eine nach den §§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnung besitzt. Diese Vorschrift beruht auf Art. 178 Buchst. a MwStSystRL. Danach kann das Recht zum Vorsteuerabzug nur ausgeübt werden, wenn der Steuerpflichtige eine im Einklang mit den Art. 220 bis 236 und 238 bis 240 MwStSystRL ausgestellte Rechnung besitzt.
Die vorgenannten Vorschriften setzen nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesfinanzhofs, der sich das Finanzgericht Münster aus eigener Überzeugung anschließt, voraus, dass die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts den Besitz einer Rechnung voraussetzt.
Nach der Rechtsprechung der Gerichtshofs der Europäischen Union legt Art. 178 Buchst. a MwStSystRL zu den Einzelheiten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug, die formalen Bedingungen gleichstehen, fest, dass der Steuerpflichtige eine gemäß den Art. 220 bis 236 und 238 bis 240 MwStSystRL ausgestellte Rechnung besitzen muss1). Das Recht auf Vorsteuerabzug ist grundsätzlich für den Zeitraum auszuüben, in dem zum einen dieses Recht entstanden ist und zum anderen der Steuerpflichtige im Besitz einer Rechnung ist2.
Zwar hat der EuGH die Erfüllung der Voraussetzung einer ordnungsmäßen Rechnung dahingehend eingeschränkt, dass das Grundprinzip der Mehrwertsteuerneutralität verlangt, dass der Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Voraussetzungen nicht genügt hat3. Diese Einschränkungen betrafen jedoch jeweils die formellen Anforderungen der Art. 220 bis 236 und 238 bis 240 MwStSystRL an den Inhalt einer Rechnung, nicht hingegen die sich unmittelbar aus Art. 178 Buchst. a MwStSystRL ergebende Voraussetzung, dass der Steuerpflichtige im Besitz einer Rechnung sein muss, so das Finanzgericht Münster.
Auch soweit der EuGH in seinem Urteil in der Rs. Vӑdan ausführte, dass „ein Steuerpflichtiger, der nicht in der Lage ist, durch Vorlage von Rechnungen oder anderen Unterlagen den Betrag der von ihm gezahlten Vorsteuer nachzuweisen, nicht allein auf der Grundlage einer Schätzung in einem vom nationalen Gericht angeordneten Sachverständigengutachten ein Recht auf Vorsteuerabzug geltend machen“ kann4, sagt dies – so das Finanzgericht Münster weiter – nichts zur Entbehrlichkeit einer Rechnung oder bestimmter Rechnungsinhalte aus. Vielmehr bestätigte der EuGH mit dieser Entscheidung die Bedeutung einer Rechnung oder anderer Abrechnungsunterlagen für das Recht auf Vorsteuerabzug5.
Unter Fortsetzung seiner bisherigen Rechtsprechung hat der EuGH jüngst in der Rs. Wilo Salmson France tenoriert, dass „ein Steuerpflichtiger, der nicht im Mitgliedstaat der Erstattung, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, den Anspruch auf Erstattung der Mehrwertsteuer, mit der eine Lieferung von Gegenständen belastet wurde, nicht geltend machen kann, wenn er keine Rechnung (…) über den Erwerb der betreffenden Gegenstände besitzt“6. Zwar betraf diese Entscheidung nicht unmittelbar den Vorsteuerabzug, sondern die Erstattung von Vorsteuerbeträgen im Vorsteuervergütungsverfahren (vgl. Art. 170 MwStSystRL), für das aber identische Grundsätze gelten. Der EuGH hat selbst darauf hingewiesen, dass der Erstattungsanspruch ebenso wie das Recht auf Vorsteuerabzug ein Grundprinzip des durch das Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems darstellt und als integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann7.
Unter Bezugnahme und in Übereinstimmung mit der EuGH-Rechtsprechung sieht der Bundesfinanzhof ebenfalls in seiner ständigen Rechtsprechung den Besitz einer Rechnung als Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Vorsteuerabzugs an8. Danach ist in Übereinstimmung mit der EuGH-Rechtsprechung der Vorsteuerabzug zu versagen, wenn der Unternehmer lediglich über ein Dokument verfügt, das die Anforderungen an eine berichtigungsfähige Rechnung nicht erfüllt9.
Der Unternehmer, der den Vorsteuerabzug geltend macht, hat die Darlegungs- und Feststellungslast für alle Tatsachen, die den Vorsteuerabzug begründen10. Danach hat der Unternehmer auch darzulegen und nachzuweisen, dass er eine ordnungsgemäße Rechnung in Besitz hatte. Der fehlende Nachweis des Rechnungsbesitzes kann dagegen nicht durch eine Schätzung ersetzt werden11.
Unter Berücksichtigung der vorgenannten unionsrechtlichen und nationalen Vorschriften sowie der hierzu ergangenen Rechtsprechung kann die Klägerin in den Streitjahren den Vorsteuerabzug aus den im Rahmen der Betriebsprüfung festgestellten Eingangsumsätzen nicht in Anspruch nehmen. Die Klägerin ist in den Streitjahren nicht im Besitz einer oder mehrerer Rechnungen der G GmbH gewesen.
Die G GmbH hat der Klägerin über die streitgegenständlichen Leistungen keine Rechnung ausgestellt. Die Klägerin verfügte im Streitjahr auch nicht über die unter ihrem Debitorenkonto gespeicherten Daten in elektronischer Form oder auf Papier ausgedruckter Form.
Zur Wahrung des Rechtsfriedens wird darauf hingewiesen, dass es sich bei dem im Rahmen der steuerstrafrechtlichen Ermittlungen technisch wiederhergestellten Debitorenkonto der Klägerin auch dann nicht um eine Rechnung handeln würde, wenn es der Klägerin in elektronischer Form oder ausgedruckt auf Papier vorläge.
Rechnung ist nach § 14 Abs. 1 Satz UStG jedes Dokument, mit dem über eine Lieferung oder sonstige Leistung abgerechnet wird, gleichgültig, wie dieses Dokument im Geschäftsverkehr bezeichnet wird. Eine Rechnung kann aus mehreren Dokumenten bestehen, aus denen sich die nach § 14 Abs. 4 UStG geforderten Angaben insgesamt ergeben (§ 31 Abs. 1 Satz Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung – UStDV). Nach Art. 218 MwStSystRL erkennen für die Zwecke der Mehrwertsteuersystemrichtlinie die Mitgliedstaaten als Rechnung alle auf Papier oder elektronisch vorliegenden Dokumente oder Mitteilungen an, die den Anforderungen der Art. 217 bis 240 MwStSystRL genügen.
Bei einem Buchführungskonto des leistenden Unternehmers – im Streitfall ein Debitorenkonto – handelt es sich nicht um ein Dokument, mit dem gegenüber einem Leistungsempfänger über eine erbrachte Leistung abgerechnet wird. Die Buchführung dient den eigenbetrieblichen Dokumentationszwecken des leistenden Unternehmers.
- EuGH, Urteile vom 11.11.2021 – C-281/20, Ferimet, UR 2022, 65; vom 15.09.2016 – C-518/14, Senatex, UR 2016, 800; vom 21.11.2018 – C-664/16, Vădan, UR 2018, 962; vom 22.10.2015 – C-277/14, PPUH Stehcemp, UR 2015, 917; vom 01.03.2012 – C-280/10, Polski Trawertyn, UR 2012, 461 [↩]
- EuGH, Urteile vom 15.09.2016 – C-518/14, Senatex, UR 2016, 800; vom 29.04.2004 – C-152/02, Terra Baubedarf-Handel, UR 2004, 323; BFH, Beschluss vom 16.05.2019 – XI B 13/19, BStBl. II 2021, 950 [↩]
- EuGH, Urteile vom 21.11.2018 – C-664/16, Vădan, UR 2018, 962; vom 15.09.2016 – C-516/14, Barlis 06, UR 2016, 795 [↩]
- EuGH, Urteil vom 21.11.2018 – C-664/16, UR 2018, 962 [↩]
- BFH, Urteil vom 12.03.2020 – V R 48/17, BStBl. II 2020, 604 [↩]
- EuGH, Urteil vom 21.10.2021 – C-80/20, UR 2021, 876 [↩]
- EuGH, Urteil vom 21.10.2021, C-80/20, UR 2021, 876 [↩]
- BFH, Urteil vom 15.10.2019 – V R 14/18, BStBl. II 2020, 596; BFH, Beschluss vom 16.05.2019 – XI B 13/19, BStBl II 2021, 950 [↩]
- BFH, Urteil vom 12.03.2020 – V R 48/17, BStBl II 2020, 604; BFH, Beschluss vom 20.07.2012 – V B 82/11, BStBl II 2012, 809 [↩]
- BFH, Beschluss vom 16.05.2019 – XI B 13/19, BStBl. II 2021, 950 [↩]
- BFH, Urteil vom 23.10.2014 – V R 23/13, BStBl II 2015, 313 [↩]