Testamente und deren Auslegung sind häufig eine schwierige Sache.
Dies insbesondere deshalb, weil auf der einen Seite recht strenge formale Anforderungen an ein wirksames Testament gestellt werden und auf der anderen Seite der Wille des Erblassers natürlich erfüllt werden sollte. Wir hatten z.B. hier und hier über interessante Fälle berichtet.
Das Oberlandesgericht Stuttgart hatte sich nun mit einem weiteren spannenden Fall zu beschäftigen.
Die Erblasserin war ledig und kinderlos verstorben. Ihre Eltern sind vorverstorben.
Sie hatte einen Bruder, weitere Geschwister sind nicht vorhanden.
Die Erblasserin hinterließ folgendes mit der Zeitangabe Februar 2007 versehenes, handschriftliches und unterschriebenes Testament:
„Für nach meinem Tode.
Meine letztwillige endgültige Bestimmung betr. unsere Hinterlassenschaft aus 40 Jahren entbehrungsvollen Hungerjahren:
Ausgeschlossen sind alle Verwandten und angeheirateten Verwandten!
Mutters Schwägerin …, geb. …, erbt den Nachlaß ihrer Eltern. Sie hat zwei Nachkommen, … und …, eine Angeheiratete. Die Familie …, …, war mitleidlos gegenüber unserem Vertreibungsschicksal. ‚Man muss doch mal vergessen können….´ Eine Aussage die wir von Einheimischen, die ihre Heimat behalten haben, hören mußten, die uns schwer verletzt hat! Bis heute wissen sie nicht wie wirklich grausam Heimweh nach daheim und Sehnsucht nach den Eltern und Großeltern ausbrennen! ‚Unser Leben ist eine offene Wunde sagte unsere leidgeprüfte tapfer geduldige Mutter!´
Auch ausgeschlossen ist Mutters Vetter, … …, München, der schwerstverwundet beinamputiert den Krieg überlebt hat, aber von Vertriebenen- und Flüchtlingsschicksalen ’nichts weiß‘. Ebenso ausgeschlossen ist seine Nachkommenschaft mit einer Angeheirateten, die seinen Nachlaß erben.
Wir wurden von den Verwandten lächerlich gemacht! Das tut sehr weh!
Ich bin im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte.
Hamburg, Februar 2007“
Der Bruder, der Beteiligte zu 1, stellte einen einen notariell beurkundeten Antrag auf Erteilung eines Erbscheins, der seine Alleinerbenstellung bezeugen soll. Er ist der Auffassung, dass der im Testament der Erblasserin angeordnete Ausschluss für ihn keine Gültigkeit haben sollte. Auch ihn habe das von der Erblasserin im Testament beschriebene Schicksal getroffen. Er habe zu seiner Schwester bis zuletzt einen guten Kontakt gepflegt.
Der Fiskus, der Beteiligte zu 2, ist dem Erbscheinsantrag entgegengetreten und hat die Feststellung des Fiskalerbrechts gemäß §§ 1936, 1964 BGB angeregt. Er ist der Auffassung, der Ausschluss der Verwandten und damit auch des Beteiligten zu 1 im Testament sei eindeutig.
Das Amtsgericht Biberach an der Riß als zuständiges Nachlassgericht hat die Erteilung eines Erbscheins gemäß dem Antrag des Beteiligten zu 1 angekündigt und ist der Anregung, das Erbrecht des Fiskus festzustellen, nicht gefolgt1.
Gegen diese Entscheidung hat der Beteiligte zu 2 Beschwerde eingelegt, der das Amtsgericht Biberach an der Riß nicht abgeholfen hat2.
Das Oberlandesgericht Stuttgart hat die Beschwerde zurückgewiesen.
Gemäß § 1938 BGB kann ein Erblasser durch ein sogenanntes Negativtestament Verwandte teilweise oder vollständig von der gesetzlichen Erbfolge ausschließen, auch ohne gleichzeitig eine positive Anordnung über die Erbfolge zu treffen. Eine solche Anordnung hat die Erblasserin mit ihrem handschriftlichen Testament vom Februar 2007 getroffen. Der Kreis der mit dieser Regelung ausgeschlossenen Verwandten ist durch Auslegung zu ermitteln, wobei mit der Feststellung, die Erblasserin habe alle Verwandte enterben wollen, Zurückhaltung geboten ist, denn es besteht durchaus ein allgemeiner Erfahrungssatz dahingehend, dass ein Erblasser das Erbrecht eines Verwandten zumeist dem Erbrecht des Fiskus vorziehen wird. Der Wille zum umfassenden Ausschluss des Verwandtenerbrechts muss daher anhand der letztwilligen Verfügung feststellbar sein und darf nicht vorschnell angenommen werden3.
Für die Auslegung testamentarischer Verfügungen gilt die allgemeine Vorschrift des § 133 BGB. Demnach gilt auch hier wie bei der Auslegung von Willenserklärungen allgemein, dass der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften ist. Ziel der Auslegung ist, den rechtlich geltenden Inhalt der vom Erblasser im konkreten Fall getroffenen testamentarischen Verfügungen festzustellen. Dabei geht es nicht um die Ermittlung eines von der Erklärung losgelösten Willens, sondern um die Klärung der Frage, was der Erblasser mit seinen Worten sagen wollte. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass der Sprachgebrauch nicht immer so exakt ist oder sein kann, dass der Erklärende mit seinen Worten genau das unmissverständlich wiedergibt, was er zum Ausdruck bringen wollte. Gerade deshalb ordnet § 133 BGB an, den Wortsinn der benutzten Ausdrücke unter Heranziehung aller Umstände zu „hinterfragen“4.
Da es um die Ermittlung des erklärten Willens geht, bildet der Wortlaut des Testaments den Ausgangspunkt der Auslegung5. Wenn nichts anderes feststellbar ist, sind auch testamentarische Erklärungen nach dem üblichen Sprachsinn auszulegen6. Jedoch setzt auch ein scheinbar klarer und eindeutiger Wille der Auslegung keine Grenzen7. Der Wortsinn der vom Erblasser verwendeten Begriffe muss stets hinterfragt werden, wenn dem wirklichen Willen des Erblassers Rechnung getragen werden soll. Dabei sind neben dem Text der Verfügung alle zugänglichen Umstände außerhalb der Testamentsurkunde zur Erforschung des wirklichen Willens des Erblassers heranzuziehen. Hierzu gehören unter anderem die Vermögens- und Familienverhältnisse des Erblassers, seine Beziehungen zu den Bedachten und seine Zielvorstellungen; auch können weitere Schriftstücke des Erblassers oder die Auffassung der Beteiligten nach dem Erbfall von dem Inhalt des Testaments Anhaltspunkte für den Willen des Erblassers geben8. In Bezug auf das für letztwillige Verfügungen geltende Formerfordernis kann der durch Auslegung festgestellte Inhalt eines Testaments allerdings nur gelten, wenn dieser in der Urkunde einen – wenn auch nur unvollkommenen oder andeutungsweisen – Ausdruck gefunden hat. Die Grenze der Berücksichtigung außerhalb der Urkunde liegender Umstände ist überschritten, wenn der Text die Richtung des rechtsgeschäftlichen Willens nicht einmal dem Grunde nach erkennen lässt9.
Nur wenn sich auch hierzu außerhalb der Urkunde liegende Umstände im Erbscheinverfahren nicht weiter ermitteln lassen oder ermittelte Umstände im Testament nicht einmal andeutungsweise zum Ausdruck kommen, muss sich das Nachlassgericht auf eine Ausdeutung des Wortlauts beschränken7, eine Auslegung, die dem Testament einen Inhalt gibt, der sich aus dem Wortlaut nicht entnehmen lässt und der auch nicht auf die Feststellung anderer Anhaltspunkte für den im Testament zum Ausdruck kommenden Erblasserwillen gestützt werden kann, ist nicht möglich6.
Auch bei der Auslegung des Inhalts letztwilliger Verfügungen gelten die allgemeinen Regeln über die Darlegungs- und Feststellungslast. Wer einen bestimmten aus Umständen außerhalb der Urkunde abgeleiteten Willen des Erblassers behauptet, trägt hierfür die Darlegungs- und Feststellungslast10.
Dies berücksichtigt legt das Oberlandesgericht Stuttgart das Testament der Erblasserin dahingehend aus, dass mit ihm eine Enterbung des Beteiligten zu 1 nicht angeordnet war.
Zu Recht weist der Beteiligte zu 2 allerdings darauf hin, dass der Wortlaut der von der Erblasserin getroffenen Ausschlussregelung den Bruder mitumfasst.
Dem im Testament wiedergegebenen Motiv der Erblasserin für den Ausschluss „der Verwandten“ lässt sich indes entnehmen, dass die Erblasserin mit diesem Personenkreis ihren Bruder, den Beteiligten zu 1, nicht mitumfasst wissen wollte, so das Oberlandesgericht Stuttgart:
Im Testament unterscheidet die Erblasserin den mit „wir“ beschriebenen Personenkreis von dem der „Verwandten“. „Verwandte“ sind diejenigen, die sich nach Vorstellung der Erblasserin nicht hinreichend empathisch mit dem Vertriebenenschicksal gezeigt haben; „Wir“ sind diejenigen, die dieses Schicksal innerhalb der Familie selbst erlitten haben. Die Differenzierung nach diesen Personengruppen zeigt sich deutlich in dem Satz „Wir wurden von den Verwandten lächerlich gemacht!“ Dass die Erblasserin den Bruder nicht zu „den Verwandten“, sondern zu dem in der ersten Person Plural umschriebenen Personenkreis zählte, wird im Satz „Unser Leben ist eine offene Wunde sagte unsere leidgeprüfte tapfer geduldige Mutter!“ deutlich.
Die Argumentation der Beschwerdebegründung, die Erblasserin hätte eine Regelung getroffen, wenn sie ihren Bruder von der Enterbung hätte ausnehmen wollen, geht fehl. Im Gegenteil spricht die Nichterwähnung des Bruders durch die Erblasserin nach Auffassung des Oberlandesgerichts Stuttgart im konkreten Fall dafür, dass er nicht unter die Ausschlussregelung fallen sollte. Wäre die Erblasserin von ihm gleichermaßen enttäuscht wie von den „Verwandten“, spricht alles dafür, dass sie ihn bei der Aufzählung der konkret benannten Personen nicht vergessen hätte.
Das Oberlandesgericht Stuttgart verkennt nicht, dass bei der so vorgenommenen Auslegung die von der Erblasserin getroffene Regelung kaum praktisch relevant werden konnte, da der Bruder als einziger gesetzlicher Erbe der zweiten Ordnung auch ohne die Verfügung Alleinerbe geworden wäre. Die Ausschlussregelung hätte im Falle seines Vorversterbens oder für den Fall seiner Erbschaftsausschlagung dennoch Bedeutung erlangen können. Ebenso ist denkbar, dass die Erblasserin bei der Regelung von der irrigen Vorstellung ausging, dass die genannten Verwandten neben dem Bruder primär zu Erben berufen sein könnten. Letztlich vermag das Oberlandesgericht Stuttgart auch nicht auszuschließen, dass die Erblasserin schlicht dem von ihr empfundenen Unrecht im Wege des Testaments post mortem Ausdruck verleihen wollte, auch wenn sich die getroffene Regelung auf die erbrechtlichen Folgen ihres Ablebens nicht auswirken sollte.
Oberlandesgericht Stuttgart, Beschluß vom 23.11.2020 – 8 W 359/20
- AG Biberach an der Riß, Beschluss vom 09.09.2020 – 3 VI 292/20 [↩]
- AG Biberach an der Riß, Beschluss vom 16.10..2020 – 3 VI 292/20 [↩]
- OLG Hamm FamRZ 2012, 1091 [↩]
- BGH, Urteile vom 07.10.1992 – IV ZR 160/91; vom 28.01.1987 – IVa ZR 191/85 [↩]
- BayObLG, Beschluss vom 05.02.1997 – 1Z BR 180/95; Linnartz in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 9. Aufl., § 2084 BGB [Stand: 18.09.2020], Rn. 7; Leipold, Erbrecht, 21. Auflage, Rn. 363 [↩]
- Leipold, Erbrecht, 21. Auflage, Rn. 363 [↩] [↩]
- BGH, Urteil vom 08.12.1982 – IVa ZR 94/81, BGHZ 86, 41 [↩] [↩]
- BGH, Urteil vom 24.06.2009 – IV ZR 202/07 [↩]
- Singer in Staudinger (2017) BGB § 133, Rn. 31 [↩]
- BGH, Urteile vom 18.01.1978 – IV ZR 181/76; vom 23.02.1956 – II ZR 207/54; Linnartz in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 9. Aufl., § 2084 BGB [Stand: 18.09.2020], Rn. 104 [↩]