Anordnung des Leinenzwangs ohne Ausnahme für Freilaufflächen rechtswidrig

Nicht nur für Listenhunde, sondern auch für im Einzelfall gefährliche Hunde gilt in NRW (abgesehen von gewissen Befreiungstatbeständen) nach § 5 Abs. 2 LHundG ein Leinen- und Maulkorbzwang.

Soll es zu einem Beissvorfall gekommen sein, so kann die Behörde aufgrund der Vermutung, dass es sich um einen im Einzelfall gefährlichen Hund handelt, bis zur Feststellung, dass dies so ist, auch im Rahmen des Sofortvollzugs einen Leinen- und Maulkorbzwang anordnen.

Das Verwaltungsgericht Aachen hat sich nun im Rahmen eines Eilverfahrens nicht nur noch einmal mit den Voraussetzungen beschäftigt, sondern – und dies ist der wesentliche Punkt der Entscheidung – festgestellt, dass von dem angeordneten Leinenzwang ausdrücklich Hundefreilauffächen ausgenommen werden müssen.

Aber im Einzelnen:

Aufgrund eines Beissvorfalls bestand bei dem Hund der Antragstellerin die Vermutung, dass es sich um einen gefährlichen Hund handelt und es wurde ein Leinen- und Maulkorbzwang angeordnet bis zur Feststellung der Gefährlichkeit (oder der „Entlastung“). Zugleich wurde die sofortige Vollziehung angeordnet.

Hiergegen wandte sich die Antragstellerin in einem Eilverfahren an das Verwaltungsgericht Aachen.

In formeller Hinsicht ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) der Ziffer 1. der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung, mit der der Antragstellerin aufgegeben wird, ihren Hund außerhalb befriedeten Besitztums an einer maximal 1,5 m langen reißfesten Leine zu führen und ihm einen das Beißen verhindernden Maulkorb oder eine in der Wirkung gleichstehende Vorrichtung anzulegen bis zum Nachweis des erfolgreichen Ablegens einer Verhaltensprüfung, nicht zu beanstanden. Sie genügt insbesondere den formalen Erfordernissen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO, wonach das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen ist.

Dieses Begründungserfordernis soll neben der Information des Betroffenen und des mit einem eventuellen Aussetzungsantrag befassten Gerichts vor allem die Behörde selbst mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG dazu anhalten, sich des Ausnahmecharakters der Vollziehungsanordnung bewusst zu werden und die Frage des Sofortvollzuges besonders sorgfältig zu prüfen. Die Anforderungen an den erforderlichen Inhalt einer solchen Begründung dürfen hierbei aber nicht überspannt werden. Diese muss allein einen bestimmten Mindestinhalt aufweisen. Dazu gehört es insbesondere, dass sie sich – in aller Regel – nicht lediglich auf eine Wiederholung der den Verwaltungsakt tragenden Gründe, auf eine bloße Wiedergabe des Textes des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO oder auf lediglich formelhafte, abstrakte und letztlich inhaltsleere Wendungen, namentlich solche ohne erkennbaren Bezug zu dem konkreten Fall, beschränken darf. Allerdings ist insbesondere für Maßnahmen der Gefahrenabwehr anerkannt, dass sich die Gründe für den Erlass der Ordnungsverfügung mit denen für die Anordnung ihrer sofortigen Vollziehung decken können. Demgegenüber verlangt § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO nicht, dass die für das besondere Vollzugsinteresse angeführten Gründe auch materiell überzeugen, also inhaltlich die getroffene Maßnahme rechtfertigen1.

Von diesen Maßstäben ausgehend sind die Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO hier gewahrt. Die Antragsgegnerin hat in ihrer gesonderten Begründung der Anordnung des Sofortvollzugs insbesondere ausgeführt, dass von dem Hund der Antragstellerin für einen nicht überschaubaren Personenkreis eine Gefahr für besonders hochrangige Rechtsgüter – nämlich körperliche Unversehrtheit, Gesundheit und Eigentum von Menschen – ausgehe und deshalb ein möglicherweise jahrelanges Hauptsacheverfahren nicht abgewartet werden könne. Damit hat die Antragsgegnerin im Zusammenhang mit einer Maßnahmen der Gefahrenabwehr hinreichend zum Ausdruck gebracht, dass sie sich des Ausnahmecharakters dieser Anordnung bewusst war.

Die sodann vorzunehmende Interessenabwägung fällt im Wesentlichen zu Ungunsten der Antragstellerin aus, mit Ausnahme der angeordneten Leinenpflicht innerhalb besonders ausgewiesener Hundeauslaufbereiche.

Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen für sofort vollziehbar erklärten bzw. kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Verwaltungsakt ganz oder teilweise wiederherstellen bzw. anordnen. Im Rahmen einer Interessenabwägung ist zu prüfen, ob das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung oder das Interesse an der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs überwiegt. Maßgebliches Kriterium innerhalb der Interessenabwägung sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache. Erweist sich der angefochtene Verwaltungsakt bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Vollzugsinteresse. Stellt der Verwaltungsakt sich hingegen als offensichtlich rechtmäßig dar, überwiegt in der Regel das Vollzugsinteresse. Lässt sich bei summarischer Überprüfung eine Offensichtlichkeitsbeurteilung nicht treffen, kommt es entscheidend auf eine Abwägung zwischen den für eine sofortige Vollziehung sprechenden Interessen einerseits und dem Interesse des Betroffenen an einer Aussetzung der Vollziehung bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren andererseits an. Die Erfolgsaussichten sind dabei auch unabhängig von einer fehlenden Offensichtlichkeit einzubeziehen. Je höher diese sind, desto größer ist das Interesse an der aufschiebenden Wirkung. Sind die Erfolgsaussichten demgegenüber gering, fällt das Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts stärker ins Gewicht.

Gemessen an diesem Maßstab überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Ziffern 1. und 3. der Ordnungsverfügung im Wesentlichen das private Aussetzungsinteresse der Antragstellerin, da sich die Ordnungsverfügung bei summarischer Betrachtung insoweit – mit Ausnahme der angeordneten Leinenpflicht innerhalb besonders ausgewiesener Hundeauslaufbereiche – als offensichtlich rechtmäßig erweist. Zudem fällt auch eine weitergehende Interessenabwägung zum Nachteil der Antragstellerin aus.

Die Antragsgegnerin hat den angeordneten Leinen- und Maulkorbzwang bis zum Nachweis des erfolgreichen Ablegens einer Verhaltensprüfung (Ziffer 1 der angefochtenen Ordnungsverfügung) – mit Ausnahme der angeordneten Leinenpflicht innerhalb besonders ausgewiesener Hundeauslaufbereiche – zu Recht auf § 12 Abs. 1 LHundG NRW gestützt.

Gemäß § 12 Abs. 1 LHundG NRW kann die zuständige Behörde die notwendigen Anordnungen treffen, um eine im Einzelfall bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit, insbesondere Verstöße gegen Vorschriften dieses Gesetzes, abzuwehren. Die Voraussetzungen für ein hierauf gestütztes Einschreiten der Ordnungsbehörde sind gegeben.

Nach § 2 Abs. 1 LHundG NRW sind Hunde so zu halten, zu führen und zu beaufsichtigen, dass von ihnen keine Gefahr für Leben oder Gesundheit von Menschen oder Tieren ausgeht. Nach § 3 Abs. 1 LHundG NRW sind gefährliche Hunde im Sinne dieses Gesetzes solche Hunde, deren Gefährlichkeit nach § 3 Abs. 2 LHundG NRW vermutet wird oder nach § 3 Abs. 3 LHundG NRW im Einzelfall festgestellt worden ist. Die Feststellung der Gefährlichkeit nach § 3 Abs. 3 Satz 1 LHundG NRW erfolgt gemäß Satz 2 der Vorschrift durch die zuständige Behörde nach Begutachtung durch den amtlichen Tierarzt. Im Einzelfall gefährliche Hunde sind unter anderem nach § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 LHundG NRW Hunde, die einen anderen Hund durch Biss verletzt haben, ohne selbst angegriffen worden zu sein, oder die einen anderen Hund trotz dessen erkennbarer artüblicher Unterwerfungsgestik gebissen haben.

Vorliegend spricht nach dem derzeit bekannten Sach- und Streitstand Überwiegendes dafür, dass es sich bei dem Hund „Rocky“ der Antragstellerin (einem Labrador Retriever) um einen nach § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 LHundG NRW im Einzelfall gefährlichen Hund handeln könnte.

Dies ergibt sich zum einen aus der Strafanzeige der Frau N wegen eines geschilderten Beißvorfalles. Dabei soll der nicht angeleinte Hund „Rocky“ der Antragstellerin  den Hund der Frau N namens „Barney“ angefallen und mehrmals in den Kopf gebissen haben. Am Folgetag habe die Tierärztin bei „Barney“ mehrere Bissverletzungen am Kopf sowie ein traumatisiertes Erscheinungsbild diagnostiziert.

Diese Schilderung deckt sich mit der Stellungnahme des Bruders der Frau N, der während des besagten Beißvorfalles mit „Barney“ Gassi ging.

Ferner sprechen auch die Tierarzt-Rechnungen wegen Behandlungen des Hundes „Barney“ für den geschilderten Sachverhalt.

Soweit die Antragstellerin in der Antragsbegründung bestreitet, dass ihr Hund „Rocky“ einen anderen Hund ohne Grund angegriffen bzw. erheblich im Bereich des Kopfes verletzt habe und darauf verweist, dass ein Ermittlungsverfahren gegen die Antragstellerin wegen des Verdachts der Sachbeschädigung (§ 303 StGB) durch die Staatsanwaltschaft Bonn gemäß § 170 Abs. 2 StPO mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt worden sei, führt dies zu keinem anderen Ergebnis.

Eine Strafbarkeit der Antragstellerin wegen Sachbeschädigung gemäß § 303 StGB durch Verletzung des Hundes „Barney“ würde gemäß § 15 StGB ein vorsätzliches Handeln der Antragstellerin voraussetzen. Eine fahrlässige Sachbeschädigung ist nicht strafbar. Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft bedeutet daher lediglich, dass die Staatsanwaltschaft keinen hinreichenden Tatverdacht dafür sah, dass die Antragstellerin ihren Hund „Rocky“ vorsätzlich dazu veranlasste, den Hund „Barney“ zu verletzen. Die Verfahrenseinstellung schließt aber nicht aus, dass der Hund „Rocky“ den Hund „Barney“ durch Biss verletzt haben könnte, ohne selbst angegriffen worden zu sein.

Vor diesem Hintergrund war eine Beiziehung der Akten der Staatsanwaltschaft Bonn nicht angezeigt. Die Antragstellerin hat in ihrer Antragsbegründung auch nicht vorgetragen, wie sich der Vorfall abweichend von den Angaben der Familie N ereignet haben soll und welche diesbezüglichen Erkenntnisse sich aus den Akten der Staatsanwaltschaft Bonn ergeben würden.

Vielmehr sprechen die bisherigen Angaben der Antragstellerin dafür, dass ihr Hund „Rocky“ den Hund „Barney“ durch Biss verletzt hat, ohne selbst angegriffen worden zu sein.

In ihrer schriftlichen Äußerung zum Vorwurf der Sachbeschädigung schilderte die Antragstellerin den Vorfall gegenüber der Polizei Euskirchen wie folgt:

„… Am Abend des 22.04.2021 war ich gemeinsam mit Herrn F, K-Straße, 00000 C und Rocky wie häufiger zu einer Abendrunde unterwegs. Unterwegs habe ich verschiedene Kommandos, wie ‚bei Fuß‘ mit Rocky geübt, wie immer mit Leine. In einem nächsten Schritt dann auch für einige Meter ohne Leine. Gerade als ich Rocky heranrief, bemerkte dieser den Hund Barney, welcher mit dem Sohn der Familie N an der langen Schleppleine wohl zu Abendrunde unterwegs war. Beide Hunde bellten gleich laut los und Rocky lief direkt dorthin. Barney kam ihm entgegen, wurde dann jedoch vom Sohn mit der Schleppleine zurückgezogen. Wir waren sofort zur Stelle, da wir ca. 4m entfernt waren und trennten beide Hunde. Der Sohn der Familie N ging mit seinem Hund um die Ecke und Herr F hielt Rocky fest. Ich ging dem Sohn der Familie N hinterher und erkundigte mich nach seinem Wohlbefinden und dem Wohlbefinden des Hundes, Barney. Der Sohn meinte ihm ginge es gut und nach erstem abtasten des Hundes, könne er auch kein Blut oder eine Wunde beim Hund feststellen. Nachdem ich nochmals fragte, ob ich etwas tun könne und er verneinte, bat ich ihn darum sich im Zweifel am nächsten Tag bei mir zu melden. Ich fragte ob er wüsste, wo ich wohne. Dies bejahte er. Damit war für mich zunächst kein weiterer Handlungsbedarf. …“

Die Antragstellerin räumte also ein, dass ihr Hund „Rocky“ auf den Hund „Barney“ zugelaufen war, während Letzterer durch eine Leine zurückgehalten worden war. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Hund „Rocky“ durch den Hund „Barney“ angegriffen wurde. Außerdem räumte die Antragstellerin ein, dass es zu einer Auseinandersetzung der beiden Hunde gekommen war und diese getrennt werden mussten. Ferner hatte sie sich mehrfach nach dem Wohlbefinden des Hundes „Barney“ erkundigt und Herrn N angeboten, dass er sich auch am nächsten Tag noch bei ihr melden könne, was dafür spricht, dass die Antragstellerin es durchaus für möglich gehalten hatte, dass der Hund „Barney“ durch ihren Hund „Rocky“ verletzt worden war.

Laut eines Aktenvermerks der Antragsgegnerin suchten zwei Mitarbeiter der Antragsgegnerin die Antragstellerin an ihrer Wohnanschrift auf und konfrontierten sie mit dem Beißvorfall. Dabei soll die Antragstellerin sich kooperativ verhalten und darauf hingewiesen haben, dass die Verletzungen des Hundes „Barney“ nicht so schlimm gewesen seien. Ferner händigte die Antragstellerin den Mitarbeitern der Antragsgegnerin ein Schreiben der Frau N aus, in dem diese die Antragstellerin zur Zahlung der beiliegenden Tierarzt-Rechnungen wegen der Beißattacke aufforderte. Auch die Tierarzt-Rechnungen für die Behandlung des Hundes „Barney“ händigte die Antragstellerin den Mitarbeitern der Antragsgegnerin aus. Auch diese Angaben der Antragstellerin sprechen dafür, dass der Hund „Rocky“ den Hund „Barney“ durch Biss verletzt hat, ohne selbst angegriffen worden zu sein.

Des Weiteren geht das Verwaltungsgericht Aachen nach summarischer Prüfung auch davon aus, dass der Hund „Rocky“ den Hund „Marley“ durch Biss verletzt hat, ohne selbst angegriffen worden zu sein. Dies ergibt sich zum einen aus der Strafanzeige des Herrn M. Darin schildert dieser ausführlich und detailliert, dass der Hund „Rocky“ seinen Jack Russell-Mischling namens „Marley“ unvermittelt angegriffen und am Vorderlauf verletzt habe. Weitere Attacken habe er lediglich dadurch abwehren können, dass er den Hund „Rocky“ ganz eng am Halsband gepackt und in die Höhe gerissen habe. Die beiliegende Tierarzt-Rechnung bestätigt einen Hundebiss sowie eine Abschürfung und ein Hämatom beim Hund „Marley“. Zum anderen bestätigte die Antragstellerin den Vorfall im Wesentlichen selbst in ihrer E-Mail an Herrn L von der Antragsgegnerin. Darin schildert sie den Vorfall wie folgt:

„… Nun ist doch das passiert, was ich mir beileibe nicht gewünscht habe. Als ich gestern Abend mit Rocky aus meiner Wohnungstür ging, um ihn anzuleinen, für einen Spaziergang, stand die Haustüre offen (einer meiner Gäste hatte sie offen gelassen). Draußen ging gerade Herr M mit seinen beiden kleinen Hunden vorbei, die kläfften. Rocky und die beiden verstehen sich nicht. In diesem Augenblick habe ich ihn noch gerufen, aber er hat nicht mehr gehört und ist durch die Türe raus und hinter den Hunden her. Ich bin sofort hinterher. Herr M. hatte ihn einige Meter weiter ganz eng am Halsband genommen. Nach meiner Kenntnis hat es keine Verletzungen gegeben. Herr M meinte es würde ihm jetzt reichen, er würde mich anzeigen. Wir hatten ausgemacht, dass ich mich melde, sobald Grund dazu besteht. … Herr M wollte nicht mehr mit sich reden lassen und ist dann zu seiner Nachbarin Frau N gegangen. Ich bin sehr traurig über die Situation und hoffe, dass Herr A uns jetzt kurzfristig helfen kann.“

Handelt es sich demnach bei dem Labrador Retriever „Rocky“ um einen potentiell im Einzelfall gefährlichen Hund, durfte die Antragsgegnerin in rechtmäßiger Weise vorläufige Maßnahmen gestützt auf § 12 Abs. 1 i.V.m. § 5 und § 2 Abs. 1 LHundG NRW anordnen.

So durfte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit Ziffer 1. der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung einen befristeten Leinen- und Maulkorbzwang aufgeben, wenn auch nicht innerhalb besonders ausgewiesener Hundeauslaufbereiche. Gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 LHundG NRW sind gefährliche Hunde außerhalb eines befriedeten Besitztums sowie in Fluren, Aufzügen, Treppenhäusern und auf Zuwegen von Mehrfamilienhäusern an einer zur Vermeidung von Gefahren geeigneten Leine zu führen. Diese sollte nicht länger als 1,5 m sein2. Nach § 5 Abs. 2 Satz 2 LHundG NRW gilt dies nicht innerhalb besonders ausgewiesener Hundeauslaufbereiche.  Darüber hinaus ist ihnen nach § 5 Abs. 2 Satz 3 LHundG NRW ein das Beißen verhindernder Maulkorb oder eine in der Wirkung gleichstehende Vorrichtung anzulegen.

Angesichts der Vorfälle, die – wie aufgezeigt – bei summarischer Überprüfung ohne Weiteres die Voraussetzungen des § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 LHundG NRW erfüllen, bestehen keine Bedenken, bis zum Nachweis des erfolgreichen Ablegens einer Verhaltensprüfung – vorübergehend – einen Leinen- und Maulkorbzwang mit Ausnahme für besonders ausgewiesene Hundeauslaufbereiche anzuordnen3. Denn solange die Ungefährlichkeit des an dem Beißvorfall beteiligten Hundes nicht durch eine anerkannte sachverständige Stelle festgestellt ist, besteht aufgrund des ermittelten Sachverhalts weiterhin die Möglichkeit, dass der Hund „Rocky“ endgültig als gefährlich im Sinne der Begriffsbestimmung des § 3 Abs. 1 und Abs. 3 LHundG NRW einzustufen ist. Insoweit führt die Antragsgegnerin in der angefochtenen Verfügung aus, dass die Anordnung zunächst nur vorläufigen Charakter hat und einer potentiellen Gefahrenlage entgegenwirken soll.

Die Ermessensausübung i.S.d. § 114 Satz 1 VwGO der Antragsgegnerin ist bei summarischer Prüfung teilweise rechtswidrig erfolgt. Die angeordnete Leinenpflicht ist insoweit unverhältnismäßig als sie keine Ausnahme für besonders ausgewiesene Hundeauslaufbereiche enthält. Da selbst bei einem gefährlichen Hund i.S.d. § 3 LHundG NRW die gesetzliche Leinenpflicht des § 5 Abs. 2 Satz 1 LHundG NRW gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 LHundG NRW nicht innerhalb besonders ausgewiesener Hundeauslaufbereiche gilt, muss dies erst recht für solche Hunde gelten, bei denen die Gefährlichkeit im Einzelfall zwar vermutet, aber noch gemäß § 3 Abs. 3 Satz 2 LHundG NRW festgestellt werden muss. Denn von einem Hund, der möglicherweise ein gefährlicher Hund i.S.d. § 3 Abs. 3 LHundG NRW ist, kann für die Allgemeinheit keine größere Gefahr ausgehen als von einem Hund, der bereits als gefährlicher Hund i.S.d. § 3 LHundG NRW gilt.

Ferner verlangt die artgerechte Haltung von – auch gefährlichen – Hunden, dass diese sich hin und wieder ohne Leine auslaufen können. Die Hundehalterin / der Hundehalter hat dies sicherzustellen. Soweit Kommunen sog. Hundeauslaufgebiete oder Hundeauslaufflächen für gefährliche Hunde ausgewiesen haben, gilt die Anleinpflicht dort nicht4.

Im Übrigen sind die angeordneten Maßnahmen nach Auffassung des Verwaltungsgerichts Aachen insgesamt verhältnismäßig und belasten die Antragstellerin nicht übermäßig. Die Antragsgegnerin verfolgt mit der Ordnungsverfügung einen legitimen und von der Ermächtigungsgrundlage getragenen Zweck. Es ist weder ein Ermessensfehlgebrauch noch eine Ermessensunter- oder -überschreitung festzustellen. Weiterhin sind weder Anhaltspunkte für ein willkürliches Vorgehen noch dafür ersichtlich, dass die Antragsgegnerin von sachfremden Erwägungen ausgegangen ist. Insbesondere sind die angeordneten Maßnahmen nach Ziffer 1.-3. der Ordnungsverfügung ausdrücklich vorübergehender Natur, namentlich zeitlich beschränkt bis zum Nachweis des erfolgreichen Ablegens einer Verhaltensprüfung, sodass die Antragstellerin es selbst in der Hand hat, durch eine zeitnahe Vorstellung ihres Hundes „Rocky“ zur Begutachtung die Geltungsdauer der angeordneten Sicherungsmaßnahmen zu beschränken.

Im Hinblick auf die sich bei summarischer Prüfung ergebende überwiegende Rechtmäßigkeit der Anordnungen und unter Berücksichtigung der unter Umständen drohenden erheblichen Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit von Menschen oder Tieren und der Folgen, die in einem solchen Fall eintreten könnten, überwiegt das öffentliche Vollzugsinteresse das Suspensivinteresse der Antragstellerin – mit Ausnahme der angeordneten Leinenpflicht innerhalb besonders ausgewiesener Hundeauslaufbereiche. Dass bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens den von dem Hund der Antragstellerin ausgehenden Gefahren nur unzureichend vorgebeugt wird, ist nicht hinnehmbar5.

Verwaltungsgericht Aachen, Beschluss vom 10.03.2022 – 6 L 557/21
ECLI:DE:VGAC:2022:0310.6L557.21.00

  1. OVG Münster, Beschluss vom 17.08.2018 – 8 B 548/18 []
  2. vgl. Nr. 5.2.1 VV LHundG NRW []
  3. vgl. Nr. 3.3.2 VV LHundG NRW []
  4. vgl. Nr. 5.2.2 VV LHundG NRW []
  5. VG Aachen, Beschluss vom 06.11.2008 – 6 L 425/08 []

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