In Niedersachsen gilt für die Feststellung der Gefährlichkeit eines Hundes nach einem Beissvorfall § 7 Abs. 1 NHundG:
„Erhält die Fachbehörde einen Hinweis darauf, dass ein Hund, der von einer Hundehalterin oder einem Hundehalter nach § 1 Abs. 2 gehalten wird, eine gesteigerte Aggressivität aufweist, insbesondere
1. Menschen oder Tiere gebissen oder sonst eine über das natürliche Maß hinausgehende Kampfbereitschaft, Angriffslust oder Schärfe gezeigt hat oder
2. (…).
Ergibt die Prüfung nach Satz 1 Tatsachen, die den Verdacht rechtfertigen, dass von dem Hund eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, so stellt die Fachbehörde fest, dass der Hund gefährlich ist.“
Wie sieht die Situation aber aus, wenn der betreffende Hund nach einem Beissvorfall einen Wesenstest besteht? Kann er sich dann sozusagen „freitesten“?
Das Verwaltungsgericht Oldenburg sieht in einer aktuellen Entscheidung diese Möglichkeit als gesetzlich nicht gegeben an, wie es auch schon in einem früheren Eilverfahren1 entschieden hatte.
In dem entschiedenen Fall wandten sich die Kläger gegen einen Bescheid des Beklagten, mit dem dieser nach einem Beißvorfall festgestellt hat, dass es sich bei dem von den Klägern gehaltenen Labrador-Rüden Balou um einen gefährlichen Hund im Sinne des § 7 NHundG handelt.
Die Kläger haben ihre Klage im Wesentlichen damit begründet, dass der im Zuge des eingeleiteten Erlaubnisverfahrens einzuholende Wesenstests ergeben werde, dass der Hund nicht gefährlich sei, wonach auch diese Einstufung wegfalle.
Mit dieser Argumentation hatten sie beim Verwaltungsgericht Oldenburg keinen Erfolg.
Der angegriffene Bescheid findet seine Rechtsgrundlage in § 7 NHundG. Nach § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 NHundG hat die Fachbehörde, wenn sie einen Hinweis darauf erhält, „dass ein Hund, der von einer Hundehalterin oder einem Hundehalter nach § 1 Abs. 2 gehalten wird, eine gesteigerte Aggressivität aufweist, insbesondere 1. Menschen oder Tiere gebissen oder sonst eine über das natürliche Maß hinausgehende Kampfbereitschaft, Angriffslust oder Schärfe gezeigt hat, … den Hinweis zu prüfen.“
Die Gefährlichkeit eines Hundes ergibt sich aus einer über das artgerechte Potential von Hunden hinausgehenden, nämlich gesteigerten Aggressivität eines Hundes, was auch schon der Wortlaut von § 7 Abs. 1 Satz 1 einleitender Satzteil NHundG zeigt, wo es ausdrücklich „gesteigerte Aggressivität“ heißt.
Insofern liegen in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 NHundG mit der einleitenden Wortwahl „insbesondere“ gesetzliche Regelbeispiele vor. Dabei geht der Gesetzgeber mit Regelbeispiel Nr. 1, 1. Fall, davon aus, dass eine das artgerechte Potential übersteigende Aggressivität vorliegt, wenn der Hund einen Menschen oder ein Tier gebissen hat. Ergibt die von der Behörde einzuleitende Prüfung danach Tatsachen, die den Verdacht rechtfertigen, dass ein Gefahrenverdacht oder Besorgnispotential vorliegt und in diesem Sinne von dem Hund eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, stellt sie die Gefährlichkeit dieses Hundes fest, § 7 Abs. 1 Satz 2 NHundG, ohne dass das Gesetz auf Rechtsfolgenseite weitere Anforderungen für diese Feststellung voraussetzt oder etwa ein Ermessen eröffnet. Auch braucht es nicht weiterer Prüfung des Hundes durch Veterinäre. Ergibt die Prüfung also nach Satz 1 Tatsachen, die den Verdacht rechtfertigen, dass von dem Hund eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, so stellt die Fachbehörde fest, dass der Hund gefährlich ist (§ 7 Abs. 1 Satz 2 NHundG).
So liegt der Fall, denn Balou hat einen Menschen gebissen. Die Tatumstände und zutreffende rechtliche Würdigung ergeben sich hier aus den Feststellungen und Gründen im angegriffenen Bescheid.
Für die Feststellung der Gefährlichkeit eines Hundes ist insbesondere in der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts2 geklärt und ausreichend, dass aufgrund von Tatsachen der Verdacht der Gefährlichkeit dieses Hundes besteht, und dass schon bei einem bloßen Verdacht der Gefährlichkeit der betreffende Hund wie ein tatsächlich gefährlicher Hund zu behandeln ist3.
Durch die Regelungen zur Feststellung der Gefährlichkeit hat der Gesetzgeber auf die (damals u.a. durch Medienberichte über Beißvorfälle beeinflusste) geänderte Wahrnehmung der durch Hunde gegebenen Gefahren in der Bevölkerung reagiert und eine Rechtsgrundlage für Grundrechtseingriffe geschaffen, mit der nicht erst einer auf Tatsachen begründeten Gefahr, sondern bereits einer möglichen Gefahr (Gefahrenverdacht oder Besorgnispotential) begegnet werden soll4. Mit dieser Regelung im NHundG ist das Recht der Hundehaltung in Niedersachsen durch eine Absenkung der Gefahrenschwelle von der Gefahrenabwehr zur weiterreichenden Gefahrenvorsorge geschärft. Ziel des § 7 NHundG ist also (auch) eine Vorsorge gegen möglicherweise erst drohende Schäden. Nach der § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Alt. 1 und Alt. 2 NHundG zu entnehmenden und verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Wertung des Gesetzgebers wird grundsätzlich bereits die Bissigkeit eines Hundes als Regelbeispiel eines nicht mehr artgerechten Verhaltens eines als gewöhnliches Haustier gehaltenen Hundes und damit als Gefahr für die öffentliche Sicherheit eingestuft. Damit bedarf nicht diese Annahme, sondern bedürfen Ausnahmen von diesem Grundsatz besonderer Begründung4.
Wie für die Einleitung der Gefährlichkeitsprüfung reicht es auch für die Feststellung der Gefährlichkeit eines Hundes aus, dass der betroffene Hund (einen Menschen, aber auch) ein anderes (Haus-)Tier, insbesondere einen anderen Hund, nicht nur ganz geringfügig verletzt hat. Hierfür genügt grundsätzlich jede Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit des anderen Tieres, unabhängig von deren Schwere; außer Betracht bleiben nur ganz geringfügige Verletzungen wie etwa einzelne ausgerissene Haare oder sehr kleine oberflächliche Kratzer5. Aus Entstehungsgeschichte, Systematik und Sinn und Zweck des NHundG folgt danach, dass unter diesen Voraussetzungen nicht die Annahme der Gefährlichkeit, sondern Ausnahmen von diesem Grundsatz besonderer Begründung bedürfen. Solche Ausnahmen kommen „bei einem erlaubten Beißen im Rahmen des bestimmungsgemäßen Gebrauchs etwa eines Dienst-, Wach- oder Jagdhundes“ oder „bei der Verletzung eines anderen (Haus-)Tieres durch ein eindeutig artgerechtes Abwehrverhalten“ oder „ggf. auch beim Beißen oder Töten von Mäusen oder Insekten“ in Betracht4, vgl. dazu bereits die Begründung des Gesetzentwurfes zum NHundG a.F., LT-Drs. 14/3715, S. 10. Im Übrigen soll jedoch gerade durch die Formulierung der Regelbeispiele in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Alt. 1 und Alt. 2 NHundG weiterhin die Amtsermittlungspflicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 NHundG begrenzt werden (so ausdrücklich der schriftliche Bericht zum NHundG a.F., LT-Drs. 14/4006, S. 4. a.E.). Daraus folgt zugleich, dass Bedenken gegen eine ggf. „überschießende“ Kontrolle eines als gefährlich eingestuften Hundes nicht auf der Tatbestandsseite, d.h. durch höhere Anforderungen an die Feststellung der Gefährlichkeit, sondern auf der Rechtsfolgenseite, d.h. bei den in § 14 NHundG geregelten Einschränkungen für das Führen eines gefährlichen Hundes Rechnung zu tragen ist4. So hat der Gesetzgeber die Möglichkeit geschaffen, vom Leinenzwang ganz oder teilweise abzusehen (s. § 14 Abs. 3 S. 2 NHundG), was insbesondere dann in Betracht zu ziehen ist, wenn der Wesenstest keinerlei Hinweise auf eine tatsächliche Gefährlichkeit eines Hundes ergibt4.
Danach bestimmt sich auch die Reichweite der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle der behördlichen Feststellung der Gefährlichkeit des Hundes, weshalb eine Beweisaufnahme auch bei widerstreitenden Zeugenaussagen nicht geboten erscheint, wenn die Tatsache der Verletzung eines anderen Tieres als solche feststeht6. Keine Bedeutung kommt dabei im Rahmen der Prüfung der Gefährlichkeit des betroffenen Hundes grundsätzlich dem Verhalten des anderen Tieres/Hundes und etwaigen Verletzungen des betroffenen Hundes selbst zu7.
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist nach Auffassung des Verwaltungsgerichts Oldenburg die von dem Beklagten getroffene Feststellung, dass es sich bei dem Hund der Kläger um einen gefährlichen Hund im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 2 NHundG handelt, zu Recht ergangen. Das Angriff- und Beißverhalten von Balou kann nach Auswertung der vorliegenden Unterlangen insgesamt nur als gefährlich eingestuft werden. Diese Feststellungen haben die Kläger im Kern auch nicht weiter angegriffen, zumal es sich hier schon um den zweiten Beißvorfall handeln dürfte.
Mit Blick auf das Vorbringen der Kläger, der Wesenstest werde die Ungefährlichkeit von Balou ergeben, hält das Gericht noch ergänzend, teilweise wiederholend, Folgendes fest:
Während für die Feststellung der Gefährlichkeit ausreichend ist, wenn aufgrund von Tatsachen der Verdacht der Gefährlichkeit eines Hundes besteht, ist erst im Erlaubnisverfahren und dort im Rahmen des Wesenstests nach § 13 NHundG zu überprüfen, ob der Hund die Fähigkeit zu sozialverträglichem Verhalten besitzt (§ 13 Abs. 1 S. 1 NHundG). Erst der Nachweis (ebenda) dieser Sozialverträglichkeit im Rahmen des Wesenstests eröffnet die Möglichkeit, die Erlaubnis zu erhalten, den weiterhin als gefährlich eingestuften Hund überhaupt führen zu dürfen. Der „bestandene“ Wesenstest ist insoweit Voraussetzung gemäß §§ 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Nr. 2 NHundG. Die insofern festgestellte Sozialverträglichkeit gilt hierfür, wirkt aber nicht zurück auf die Gefährlichkeitsfeststellung nach § 7 NHundG. Daher auch bedarf es für die Feststellung der Gefährlichkeit im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 2 NHundG nicht einer abschließenden Prüfung, ob das von dem Hund bei dem Beißvorfall gezeigte Verhalten eine gesteigerte Aggressivität oder eine über das natürliche Maß hinausgehende Angriffslust aufweist8. Der Wesenstest nach § 13 NHundG ist gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 2 NHundG der Feststellung der Gefährlichkeit des Hundes zudem zeitlich nachgelagert und stellt eine Voraussetzung für die Erlaubnis zum Halten des bereits als gefährlich eingestuften Hundes dar, ist mithin nicht bereits Gegenstand der näheren Überprüfung des Sachverhalts nach § 7 Abs. 1 Satz 1 NHundG, die zu der Feststellung der Gefährlichkeit führen kann8.
Dementsprechend vermag das positive Ergebnis eines nach dem Beißvorfall erstellten Gutachtens eines Tierarztes nichts an der auf dem Gefahrenverdacht beruhenden Feststellung der Gefährlichkeit zu ändern. Daher können – so das Verwaltungsgericht Oldenburg weiter – die Kläger auch nicht mit ihrem Einwand gehört werden,
„dass die Feststellung der Gefährlichkeit eines Hundes kein Umstand ist, der das Tier auf seine Lebenszeit begleiten muss. Es ist deshalb zulässig, den Wegfall des Attributs „gefährlich“ durch einen bestandenen Wesenstest nachzuweisen.“
Ihnen ist insoweit zuzugeben, dass es vereinzelt rechtspolitische Bestrebungen geben dürfte, die „Rehabilitation“ eines als gefährlich eingestuften Hundes zu ermöglichen, und dieses offenbar sogar noch möglichst während des Laufes der aktuellen Niedersächsischen Legislaturperiode (siehe z.B. Bericht des NDR, ohne Fundstellen-Nachweis, und dazu evtl. ergänzend Zeitungsartikel der Hannoverischen Allgemeinen Zeitung vom 05.07.2021 zum Wesenstest). So heißt es in der Zeitungsmeldung einer Zeitungsmeldung der Nordwest-Zeitung NWZ vom 9. Oktober 2021 wörtlich:
„… aus Sicht des CDU-Fraktionschef wichtig, das Katastrophenschutzgesetz anzupassen. Dabei … Auch das Jagdgesetz und das Gesetz zum Halten von Hunden will die Koalition noch anpacken. Dabei sollen Regeln aufgestellt werden, damit Hunde, die auffällig geworden sind, wieder „rehabilitiert“ werden können.“
Allerdings ergibt sich dies sodann aus der Antwort der Landesregierung auf die dringliche Anfrage der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen nach Gesetzesvorhaben vom 14.10.2021 nicht9.
Verwaltungsgericht Oldenburg, Urteil vom 22.10.2021 – 7 A 2701/21 ECLI:DE:VGOLDBG:2021:1022.7A2701.21.00
- VG Oldenburg, Beschluss vom 03.08.2020 – 7 B 1671/20 [↩]
- Nds. OVG, Beschlüsse vom 31.08.2012 – 11 ME 221/12; vom 18.01.2012 – 11 ME 423/11 [↩]
- Nds. OVG, Beschluss vom 12.05.2005 – 11 ME 92/05, Nds. VBl. 2005, 213 [↩]
- Nds. OVG, Beschluss vom 18.01.2012 – 11 ME 423/11, NdsVBl. 2012, 190 [↩] [↩] [↩] [↩] [↩]
- Nds. OVG, Beschlüsse vom 03.09.2008 – 11 LA 3/08 -; vom 13.12.2006 – 11 ME 350/06 [↩]
- Nds. OVG, Beschlüsse vom 31.08.2012 – 11 ME 221/12 -; vom 27.07.2010 – 11 PA 265/10; vom 12.05.2005 – 11 ME 92/05 [↩]
- Nds. OVG, Beschluss vom 27.07.2010 – 11 PA 265/10 [↩]
- Nds. OVG, Beschlüsse vom 30.06.2015 – 11 LA 250/14; vom 03.03.2015 – 11 LA 172/14 [↩] [↩]
- Nds. Landtag, Plenarprotokoll 18/119 (Vorläufiger Bericht) vom 14.10.2021 [↩]