Die Vollstreckung von Räumungsurteilen bezüglich Wohnräumen ist immer eine schwierige Angelegenheit.
Bei Mietnomaden hat man da wenig Mitleid – zumal diese zumeist die Räumlichkeiten schon verlassen haben.
Bei älteren Menschen oder Menschen mit psychischen Problemen sieht es dann wieder anders aus.
Allerdings muss man auch da beachten, dass ein Gericht die Kündigung des Vermieters – ob wegen ausbleibender Mietzahlungen oder anderweitiger Kündigungsgründe – für wirksam erachtet hat. Selbstredend hat ein Vermieter dann grundsätzlich das Recht, das Urteil durchzusetzen, da er sein Eigentum auch finanzieren muss.
Die Abwägung ist dann manchmal im Rahmen der Zwangsvollstreckung, also der Räumung, schwierig.
Aktuell hat das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer einstweiligen Anordnung die Zwangsvollstreckung aus einem Räumungsurteil des Amtsgerichts Starnberg1 und dem entsprechenden Berufungsurteil des Landgerichts München II2 bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens auf die Dauer von sechs Monaten, ausgesetzt, soweit der Beschwerdeführer zur Räumung und Herausgabe der von ihm innegehabten Wohnung einschließlich Garage verurteilt worden ist.
Warum?
Beim Bundesverfassungsgericht ist eine Verfassungbeschwerde gegen die Entscheidung des Landgerichts München II2 anhängig.
Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.
Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ein strenger Maßstab anzulegen. Dabei haben die Gründe, die der Beschwerdeführer für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Hoheitsakte anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre.
Nach diesen Maßstäben hat der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Erfolg.
Die Verfassungsbeschwerde erscheint nach dem gegenwärtigen Verfahrensstand weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Es kann insbesondere nicht ausgeschlossen werden, dass die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer jedenfalls in seinem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen.
Über den Antrag auf einstweilige Anordnung ist deshalb nach Maßgabe einer Folgenabwägung zu entscheiden. Diese fällt zugunsten des Beschwerdeführers aus.
1. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, könnte aus dem rechtskräftigen Endurteil vollstreckt und die Räumung der Wohnung des Beschwerdeführers durchgeführt werden. Dadurch könnten möglicherweise nicht rückgängig zu machende schwerwiegende Folgen für Leben und Gesundheit des Beschwerdeführers eintreten.
Nach dem vom Beschwerdeführer im Vollstreckungsschutzverfahren vorgelegten psychiatrischen Gutachten liegt ein komplexes diffuses Krankheitsbild mit kognitiven Beeinträchtigungen vor. Er sei nicht mehr in der Lage, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen und einen freien Willen zu bilden. Er leide an einem beginnenden dementiellen Syndrom mit deutlich wahnhafter Komponente und an einer Persönlichkeitsstörung. Hierbei handele es sich um psychische Erkrankungen und um chronische progrediente Leiden. Der Beschwerdeführer könne aufgrund seiner Krankheit seinen Willen nicht mehr frei bestimmen beziehungsweise nicht entsprechend seiner Einsicht handeln. Das Krankheitsbild zeige einen Ausprägungsgrad, bei dem nach gutachterlicher Auffassung die Voraussetzungen zur Errichtung einer umfassenden Betreuung, auch gegen den expliziten Willen des Beschwerdeführers, vorlägen. Es sei eine umfassende Unterstützung im Rahmen einer Betreuung zur Strukturierung der anstehenden Probleme erforderlich. Die psychischen Erkrankungen würden, dem beginnenden Verlauf folgend, auf unbestimmte Zeit fortbestehen. Erfahrungsgemäß zeige ein derartiges Krankheitsbild wenig Tendenz zur Stabilisierung. Wegen der Erkrankungen könne der Beschwerdeführer nicht mehr Sorge für seine persönlichen Angelegenheiten tragen.
Aufgrund der im Gutachten geschilderten Umstände ist eine konkrete Gefahr für Gesundheit und Leben des 78-jährigen, erkrankten und alleinstehenden Beschwerdeführers bei Durchführung der Räumungsvollstreckung oder im Nachgang dazu jedenfalls nicht auszuschließen, weil er infolge seines komplexen Krankheitsbildes nicht in der Lage ist, selbständig einen Umzug zu vollziehen und sich in einer neuen Umgebung zurechtzufinden, sodass eine deutliche Verschlechterung seiner psychischen und physischen Gesundheit droht.
2. Erginge demgegenüber die einstweilige Anordnung, bliebe die Verfassungsbeschwerde später aber ohne Erfolg, so verzögerte sich die Räumung um wenige Monate. Das wiegt trotz des Umstandes, dass dem Beschwerdeführer gerichtlich zuletzt eine Räumungsfrist bis zum 30. September 2021 eingeräumt wurde, insgesamt weniger schwer als die dem Beschwerdeführer drohenden Nachteile, zumal der Beschwerdeführer angekündigt hat, er werde die bestehenden Mietrückstände umgehend begleichen, sobald seinem Verfahrensbevollmächtigten von der Vermieterin eine aktuelle Aufstellung darüber übermittelt werde.
Gemäß § 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG wurde wegen der besonderen Dringlichkeit im Hinblick auf den kurzfristig bevorstehenden Räumungstermin davon abgesehen, der Begünstigten des Ausgangsverfahrens und der Äußerungsberechtigten Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu geben.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 13.04.2022 – 2 BvR 447/22
ECLI:DE:BVerfG:2022:rk20220413.2bvr044722
- AG Starnberg, Urteil vom 12.02.2020 – 6 C 1072/19 [↩]
- LG München II, Urteil vom 13.04.2021 – 12 S 703/20 [↩] [↩]