Zugang eines Steuerbescheides, der Steuerberater und das Fristenkontrollbuch: stapeln reicht nicht

Gegen Bescheide eines Finanzamtes ist binnen einer Frist von einem Monat Einspruch einzulegen – sonst werden sie bestandskräftig.

Wann gilt ein solcher Bescheid aber als zugegangen?

Hierzu findet sich in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO eine Fiktion:

Ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, gilt als bekannt gegeben

1.bei einer Übermittlung im Inland am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post,
 
2. …,

außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.

Also kann man – verkürzt gesagt – Tage auf das Absendedatum aufschlagen und dann die Monatsfrist darauf addieren, um den Fristablauf zu ermitteln (wobei es gerade auch Laien nicht geraten werden kann, hier ermittelte Fristen bis zum letzten Tag auszureizen).

Was passiert aber, wenn der Empfänger behauptet, er habe den Bescheid erst nach den o.g. drei Tagen erhalten?

Das Finanzgericht München hatte nun über einen Fall zu entscheiden, in dem ein Steuerberater einen Bescheid erhalten hatte und diese laut seinem Eingangsstempel erst nach den bewussten drei Tagen nach Absendung bei ihm eingegangen war. Der Einspruch gegen diesen Bescheid hatte er sodann einen Monat ab dem von ihm vermerkten Eingangsdatum eingelegt.

Das Finanzamt hatte den Einspruch zunächst als unbegründet zurückgewiesen. Die hiergegen gerichtete Klage hat das Finanzgericht München nun abgewiesen, da der Einspruch schon verfristet gewesen sei.

Worum ging es konkret?

Mit ihrer Klage lassen die Kläger vortragen, dass die Einkommensteuerbescheide vom 13.06.2018 ihren Steuerberatern erst am 25.06.2018 zugegangen seien. Der Zugang zu diesem Datum ließe sich durch die angebrachten Eingangsstempel nachweisen. Aufgrund der Paraphe am Stempel sei davon auszugehen, dass der Posteingangsstempel vom […] Steuerberater (AY) – dem Prozessbevollmächtigten der Kläger – angebracht worden sei; dies könne er durch seine Zeugenaussage bestätigen. Ein Posteingangsbuch werde nicht geführt. Die entsprechenden Briefumschläge könnten nicht vorgelegt werden, da sie nach dem Öffnen der Post entsorgt worden sein. Die damalige Steuerberatungskanzlei der Kläger, die XY-StB, habe auch keine Sekretärin zum Öffnen der Briefpost beschäftigt.

Die Entscheidung:

Nach Auffassung des Finanzgerichts München sind die Ausgangsbescheide bestandskräftig, da nicht fristgerecht Einspruch erhoben wurde und eine Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist nicht in Betracht kommt. Rechtsfolge der eingetretenen Bestandskraft ist es, dass die Bescheide Bindungswirkung entfalten und vom Gericht nicht mehr überprüft werden können. Der Einspruch der Kläger hatte zu Recht keinen Erfolg.

Im Streitfall wäre aber der als unbegründet zurückgewiesene Einspruch bereits nach § 358 Satz 2 AO als unzulässig zu verwerfen gewesen. Dies begründet jedoch keine Beschwer. Denn hat das Finanzamt einen unzulässigen Einspruch als unbegründet zurückgewiesen, hat die Klage gleichwohl keinen Erfolg1.

Der Einspruch der Kläger gegen die Bescheide vom 13.06.2018 über die Einkommensteuer für 2015 und 2016 wurde nach Auffassung des Finanzgerichts München verspätet erhoben.

Gemäß § 355 Abs. 1 AO beträgt die Frist für die Einlegung des Einspruchs einen Monat; sie beginnt mit der Bekanntgabe des Steuerbescheids. Der Steuerbescheid kann – wie im Streitfall – auch an einen Bevollmächtigten bekannt gegeben werden (§ 122 Abs. 1 Satz 3 AO). Der Steuerbescheid kann auch – wie im Streitfall – durch die Post übermittelt werden (§ 122 Abs. 2 AO). In diesem Fall gilt der Steuerbescheid nach der besonderen Bekanntgaberegelung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO mit dem dritten Tage nach ihrer Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn sie nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.

Die Regelung des § 122 Abs. 2 AO fingiert den Zugang eines mit der Post übermittelten Verwaltungsakts am dritten Tag nach dessen Aufgabe zur Post. Die Vorschrift enthält eine an den Tag der Aufgabe des Verwaltungsaktes zur Post anknüpfende Zugangsvermutung und darüber hinaus eine „Zugangsfiktion“2. Es handelt sich bei § 122 Abs. 2 AO materiell um eine gesetzliche Vermutung des Zeitpunkts des Zugangs eines Schriftstücks. Diese Vermutung ist jedoch nicht unwiderleglich, sondern kann nach Maßgabe des § 122 Abs. 2 AO widerlegt werden3. Mit § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO wollte der Gesetzgeber – zugunsten wie zuungunsten des Adressaten – generell einen Streit über den genauen Zeitpunkt des Zugangs eines Bescheids weitgehend ausschließen4.

Nach dieser Maßgabe gelten die Bescheide vom 13. Juni 2018 über die Einkommensteuer für 2015 und 2016 am 18.06.2018 als bekannt gegeben (Aufgabe zur Post am Mittwoch, den 13. Juni 2018; nach drei Tagen – am Samstag, den 16. Juni 2018 mit Feiertagsregel gemäß § 108 Abs. 3 AO – gilt als Tag der Bekanntgabe Montag der 18. Juni 2018). Die Einspruchsfrist von einem Monat endet damit am Mittwoch, den 18. Juli 2018. Der Zugang des Einspruchsschreibens am 19. Juli 2018 ist damit verspätet.

Bestreitet der Steuerpflichtige – wie im Streitfall die Kläger – nicht den Zugang des Schriftstücks überhaupt, sondern den Erhalt innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO, so hat er sein Vorbringen im Rahmen des Möglichen zu substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen5. Hierzu muss er Tatsachen vortragen, die den Schluss darauf zulassen, dass ein anderer Geschehensablauf als der typische Zugang binnen dreier Tage nach Aufgabe zur Post ernstlich in Betracht zu ziehen ist6. An diese Substantiierung sind aber keine allzu hohen Anforderungen zu stellen, damit die Regelung über die objektive Beweislast, die nach dem Gesetz die Finanzverwaltungsbehörde trifft, nicht zu Lasten des Steuerpflichtigen umgekehrt wird7. Den Steuerpflichtigen trifft bei behauptetem überlangem Postlauf die Obliegenheit zur Beweisvorsorge, diesen Umstand umgehend dem Finanzamt anzuzeigen8. Zur Begründung von Zweifeln am Zugang innerhalb der Dreitagesfrist reicht ein abweichender Eingangsvermerk nicht aus9. Zu einem substantiierten, auf einen verspäteten Zugang hindeutenden Tatsachenvortrag kann etwa die Vorlage des betreffenden Briefumschlags des übersendeten Verwaltungsakts dienen10.

Hat der Steuerpflichtige seinen Vortrag im Rahmen des ihm Möglichen substantiiert, dann obliegt es dem Gericht, den Vortrag des Steuerpflichtigen und die festgestellten oder unstreitigen Umstände im Wege freier Beweiswürdigung nach § 96 Abs. 1 FGO abzuwägen. Auf die Beweislastregel des § 122 Abs. 2 Halbsatz 2 AO („im Zweifel hat die Behörde […] den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen“) kann erst dann zurückgegriffen werden, wenn trotz erfolgter Sachaufklärung noch Zweifel am gesetzlich vermuteten Zugang eines Bescheides verbleiben11.

Bei Übertragung dieser Grundsätze auf den Streitfall ist das Finanzgericht München nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung der Auffassung, dass keine Zweifel am Zugang der Einkommensteuerbescheide für 2015 und 2016 vom 13.06.2018 innerhalb der Dreitagesfrist bestehen; demgemäß, hat den Zeitpunkt des Zugangs der Bescheide nicht der Beklagte nachzuweisen.

Dieses Ergebnis ergibt sich aus den folgenden Erwägungen:

Das Finanzgericht München ist davon überzeugt, dass die beiden Bescheide vom 13.06.2018 über die Einkommensteuer für 2015 und 2016 am 13.06.2018 mit einfachem Brief zur Post gegeben wurden. Denn die beiden Bescheide wurden in einer sogenannten glatten Bahn im Rechenzentrum erstellt und von dort versendet. Dies haben die Kläger durch ihren Prozessbevollmächtigten – zu Recht – auch nicht bestreiten lassen. Im Übrigen konnten die Kläger auch nicht die Briefumschläge vorlegen und dadurch Zweifel am Tag der Aufgabe zur Post erwecken12.

Den Klägern ist nicht gelungen, die gesetzliche Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO – mit dem Ergebnis der Bekanntgabe der angefochtenen Einkommensteuerbescheide 2015 und 2016 zum 18.06.2018 – zu erschüttern; der Beklagte musste damit nicht beweisen, wann die Bescheide vom 13.06.2018 den Klägern tatsächlich zugegangen sind.

Im Streitfall haben die Kläger als einziges Beweismittel für den verspäteten Zugang der angefochtenen Bescheide ihren Prozessbevollmächtigten benannt. Der Prozessbevollmächtigte kann Zeuge sein, auch unter Fortdauer dieser Eigenschaft13.

Das Finanzgericht München hat keine Zweifel am Zugang der Einkommensteuerbescheide für 2015 und 2016 vom 13.06.2018 innerhalb der Dreitagesfrist, da die Kläger ihren Sachvortrag, dass die Einkommensteuerbescheide für 2015 und 2016 bei ihren Steuerberatern, der XY-StB, erst am 25.06.2018 zugegangen sind, nicht bewiesen haben.

Zum einen genügt die Zeugenaussage des Prozessbevollmächtigten der Kläger als Beweis für den Zugangszeitpunkts eines Verwaltungsaktes dann nicht, wenn objektive Beweismittel zur Verfügung gestanden hätten14.

Zum anderen war nach Auffassung des Finanzgerichts München auch die Zeugenaussage des Prozessbevollmächtigten nicht geeignet, Zweifel des Gerichts am Zugang der Bescheide für 2015 und 2016 innerhalb der Dreitagesfrist zu wecken.

Nach Auffassung des Finanzgerichts München war der Zeuge, der Steuerberater AY, nur wenig glaubwürdig. Das Finanzgericht München berücksichtigt das starke Eigeninteresse des Zeugen bei der Beweiswürdigung15. Den Eindruck der geringen Glaubwürdigkeit hat das Finanzgericht München deshalb gewonnen, weil der Zeuge bei seiner Aussage ersichtlich bemüht war, vor allem den Eindruck zu erwecken, dass ihm im Streitfall bei der Einspruchseinlegung kein Fehler unterlaufen ist und er auch sonst fehlerfrei arbeitet. So hat er bereits zu Beginn seiner Zeugenaussage, darauf hingewiesen, dass das vom Finanzamt im Einspruchsverfahren verlangte Posteingangsbuch, das von ihm nicht geführt wurde und (auch heute) nicht geführt wird, sowie auch von keinem Steuerberater aus dem Kreis seiner Verwandten und Bekannten geführt wird. Ebenso hat der Zeuge ausgesagt, dass er auch kein Fristenkontrollbuch und kein Postausgangsbuch führte und (auch heute nicht) führt, da dies zur Fristwahrung gar nicht nötig ist; es hat bei ihm schon immer ausgereicht, wenn er die Bescheide geordnet in einem Stapel auf dem Schreibtisch abgelegt hat, da er so den Fristablauf sofort erkennen konnte und kann. Mit dieser Aussage verkennt der Zeuge ganz offensichtlich seine Organisationspflichten als Steuerberater, denn nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs16 ist ein Fristenkontrollbuch oder eine vergleichbare Einrichtung die unerlässliche Voraussetzung einer ordnungsmäßigen Büroorganisation zur Wahrung von Fristen. Es genügt nicht, Schriftstücke, die zur Wahrung einer Rechtsmittelfrist eine termingebundene Erledigung erfordern, in sog. Terminmappen abzulegen17. Als Folge dieses Organisationsmangels vermag ein Berater sich bei einer Fristversäumung nicht zu entschuldigen und eine Wiedereinsetzung nach § 56 FGO kann nicht gewährt werden. Der Zeuge hat auch ein eigenes materielles Interesse daran, dass die angefochtenen Bescheide erst am 25.06.2018 bei der XY-StB zugegangen ist, da er sich sonst einer Schadensersatzforderung seiner Mandanten wegen der Versäumnis der Einspruchsfrist ausgesetzt sieht.

Auch hält das Finanzgericht München die Aussage des Zeugen für wenig glaubhaft, dass die angefochtenen Bescheide für 2015 und 2016 tatsächlich erst am 25.06.2018 zugegangen sind. Diese Aussage hat der Zeuge nur damit begründen können, dass die beiden Bescheide den Eingangsstempel dieses Tages tragen. Außerdem hat er ausgeführt: „Der ganze Vorgang mit dem Bescheideingang ist mir heute so exakt nicht mehr erinnerlich. Was ich sicher sagen kann ist, dass ich den Stempel auf dem Bescheiden angebracht habe, ich die Paraphe angebracht habe und den Einspruch eingelegt habe. Außerdem war das mit dem Ablauf in der Kanzlei so, wie ich es geschildert habe.“ Das Finanzgericht München ist vielmehr der Überzeugung, dass aufgrund der Aussage des Zeugen über die Vorgänge in der Kanzlei der XY-StB nicht garantiert ist, dass Bescheide immer einen korrekten Eingangsstempel erhalten haben und dass dies auch auf die angefochtenen Bescheide vom 13.06.2018 zutrifft. Bereits nach der Beweiserhebung, im Rahmen der Beweiswürdigung, konnte der Zeuge AY (der Prozessbevollmächtigte der Kläger) nicht überzeugend den Einwand ausräumen, dass Versehen bei der XY-StB dahingehend passieren konnten, dass bereits früher in der Kanzlei eingegangene Bescheide versehentlich einen falschen Eingangsstempel bekommen. Erst nachdem die Vertreterin des Beklagten nach der Beweiserhebung im Rahmen der Beweiswürdigung auf die Möglichkeit hingewiesen hat, dass die Bescheide vom 13.06.2018 von dem „Fristenkontroll-Stapel“ mit den frisch am 25.06.2018 eingegangenen Bescheiden in einem Haufen auf dem Schreibtisch des Zeugen vermischt worden sein könnten und es so zu dem Eingangsstempel vom „25. Juni 2018“ gekommen sei, hat AY im Rahmen der Beweiswürdigung seine Aussage zum Vorgang in der Kanzlei der XY-StB verändert. Er hat nun in seiner Rolle als Prozessbevollmächtigter der Kläger ausgeführt, dass nie in seinem Zimmer Briefe geöffnet und mit dem Eingangsstempel versehen wurden und dass die Briefe immer im Büro von Frau […] (BZ) geöffnet und gestempelt wurde; außerdem hat er dann weiter behauptet, dass erst danach die mit dem Stempel versehenen Bescheide in das Büro von ihm oder seinem Mitgesellschafter gebracht wurden. Erst auf weitere Frage relativierte er wieder diese Ausführung und gab an, dass Post von ihm in seinem Zimmer geöffnet wurde, wenn Frau BZ nicht anwesend war und fügte hinzu, dass es aber ausgeschlossen war, dass aus dem Stapel der alten Briefe auf seinem Schreibtisch einige Briefe in die neu eingegangene Post gelangen konnten.

Das Finanzgericht München hält auch die weiteren Ausführungen des Prozessbevollmächtigten der Kläger, dass es wiederholt in den Monaten Juni und Juli in der XY-StB zu einem verspäteten Zugang von Briefen kam, nicht für geeignet, Zweifel an der gesetzlichen Zugangsvermutung zu begründen. Der Prozessbevollmächtigte der Kläger hatte in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass die Post im Juni und Juli wiederholt Vertretungen eingesetzt hat und dass in dem Haus unter der Büroadresse der XY-StB auch eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und ein weiterer Steuerberater ihre Büros unterhielten. Ein pauschaler Hinweis auf Briefkastenverwechslungen um Zweifel am Zugang außerhalb der Tagesfrist zu erwecken, ist aber nicht ausreichend18. Das Finanzgericht Müncen hält diese Ausführungen des Prozessbevollmächtigten auch für wenig glaubhaft. Diese Ausführungen machte der Prozessbevollmächtigte erst nach seiner Zeugenaussage im Rahmen der Beweiswürdigung; bis zu diesem Zeitpunkt wurde diese Variante im Sachvortrag von den Klägern und ihrem Prozessbevollmächtigten nicht erwähnt. Während seiner Zeugenaussage spielte eine solche Briefkastenverwechslung auch noch keine Rolle. Der Umstand, dass diese Sachverhaltsvariante vom Prozessbevollmächtigten erst nach der Beweisaufnahme präsentiert wurde, weckt Zweifel daran, dass diese Ausführungen glaubhaft sind. Im Übrigen kann nach Auffassung des Gerichts der Umstand, dass ein Postbote einen für die XY-StB bestimmten Brief in den Briefkasten eines anderen Steuerberaters oder einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im selben Haus steckt, keine Verzögerung im Postlauf von mehr als einer Woche und einen Zugang erst nach zwölf Tagen erklären; dieser Fehler bei der Postverteilung kann nach Auffassung des Gerichts eine weitere Verzögerung von maximal zwei bis drei Tagen erklären. Denn der Prozessbevollmächtigte hat ausgeführt, dass nach einem Fehler des Postboten die Sekretärinnen dieser anderen Kanzleien, wenn sie in ihrem Posteingang die Briefe, die für die XY-StB bestimmt waren, entdeckt hatten, diese kommentarlos in den Briefkasten der XY gesteckt hatten. Außerdem hat das Gericht auch Zweifel daran, dass der vom Prozessbevollmächtigten genannte Zeitraum von Fehlern bei der Postzustellung mit Juni und Juli wegen des Einsatzes von Vertretungen zutrifft. Die klassischen Urlaubsmonate mit Vertretungen fallen im Sommer in die Zeit von Mitte Juli bis Anfang September; in Bayern waren die Schulferien zu Pfingsten (Pfingstsonntag am 20. Mai 2018) vom 22. Mai bis 2. Juni 2018 und die Sommerferien vom 30. Juli bis 10. September 2018.

Im Streitfall haben die Kläger, bzw. der heutige Prozessbevollmächtigte der Kläger und damalige Steuerberater verkannt, dass eine Obliegenheit zur Beweisvorsorge besteht, wenn der Adressat einen atypisch langen Postlauf anhand des Poststempels oder des Bescheiddatums erkennen konnte. Für den Prozessbevollmächtigten der Kläger bestand demgemäß die Obliegenheit einen etwaigen verspäteten Zugang der Einkommensteuerbescheide 2015 und 2016 umgehend dem Finanzamt anzuzeigen und sich mit diesem über die zu beachtende Frist zu verständigen19. Der Prozessbevollmächtigte der Kläger hat auf den entsprechenden Vorhalt des Finanzgerichts München in diesem Zusammenhang jedoch vorgetragen, dass es ihm darum ging, den Kläger zu kontaktieren, um abzuklären, was zu tun ist. Da der Kläger erkrankt war, hatte er dann versucht, die Einspruchsfrist auszureizen und deshalb sei erst am 19.07.2018 der Einspruch zur Fristwahrung eingelegt worden. Bei diesem – vorgetragenen – Sachverhalt muss sich für einen umsichtigen Steuerberater die Obliegenheit zur Beweisvorsorge und eine Kontaktaufnahme mit dem Finanzamt geradezu aufdrängen. Ein erstes Telefonat des Prozessbevollmächtigten mit dem Finanzamt ist aber in den Steuerakten erst zum 16.07.2019 dokumentiert, nachdem der Prozessbevollmächtigte auf die Versäumnis der Einspruchsfrist mit Schrieben des Finanzamts vom 15.07.2019 hingewiesen worden war. Weitere Telefonate hat der Prozessbevollmächtigte mit dem Finanzamt danach erst am 19.09.2019 und 06.11.2019 geführt, nachdem er erneut mit Schreiben vom 17.09.2019 zur Vorlage von Nachweisen für den späteren Zugang der Bescheide zum 25.06.2018 aufgefordert worden war. Der Vortrag des Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung, dass die Versäumnis der Einspruchsfrist erst im Jahr 2020 vom Finanzamt thematisiert wurde, ist demgemäß unzutreffend. Ein Beleg für die vom Prozessbevollmächtigten als Zeuge gemachte Aussage, dass er mit dem Veranlagungsbeamten ein Gespräch geführt habe, dass eine kurzfristige Begründung des Einspruchs nicht möglich sei, findet sich nicht in den Steuerakten. Das Finanzamt hat vielmehr Einspruchsbegründungen mit Schreiben vom 20. August 2018 von der XY-StB und mit Schreiben vom 19.09.2018 und vom 10.10.2018 unmittelbar bei den Klägern angefordert; diese Schreiben des Finanzamts blieben jedoch unbeantwortet. Zum 10.01.2019 erfolgte dann ausweislich der Akten die Abgabe der Einsprüche an die Rechtsbehelfsstelle.

Außerdem hätte der Prozessbevollmächtigte der Kläger im Rahmen seiner Obliegenheit zur Beweisvorsorge auch einen verspäteten Eingang der Bescheide für 2015 und 2016 durch Zeugen dokumentieren müssen20. Auch diese Möglichkeit wurde versäumt, obwohl – den vom Prozessbevollmächtigten vorgetragenen Sachverhalt unterstellt – grundsätzlich weitere Zeugen für einen etwaigen späteren Zugang zur Verfügung gestanden hätten; in der XY-StB waren nach der Aussage des Zeugen AY neben ihm auch noch der Mitgesellschafter und Frau BZ beschäftigt. Sofern es ernsthaft in Betracht zu ziehen wäre, dass die beiden angefochtenen Bescheide versehentlich vom Postboten in den falschen Briefkasten bei dem anderen Steuerberater oder der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im Haus eingeworfen wurden, hätte der Prozessbevollmächtigte auch Bedienstete aus diesen Kanzleien als Zeugen heranziehen können.

Da die Einkommensteuerbescheide 2015 und 2016 vom 13.06.2018 nach der Zugangsvermutung gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO gegenüber den Klägern am 18.07.2018 als bekannt gegeben gelten, war der am 19.07.2018 eingelegte Einspruch verspätet erhoben worden. Ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumnis der Einspruchsfrist (§ 110 Abs. 1 AO) war von den Klägern nicht gestellt worden; von Amts wegen war Wiedereinsetzung (§ 110 Abs. 2 Satz 4 AO) vom Finanzamt auch nicht zu gewähren, da binnen eines Jahres keine entsprechenden Tatsachen vorgetragen worden waren.

Finanzgericht München, Urteil vom 30.03.2022 – 12 K 758/20

  1. BFH, Beschluss vom 11.11.2008 – V B 2/08, BFH/NV 2009, 401; BFH, Urteil vom 22.08.2019 – V R 21/18, BFHE 266, 10, BStBl II 2020, 35 []
  2. BFH, Beschlüsse vom 01.12.2010 – VIII B 123/10, BFH/NV 2011, 410; vom 26.01.2010 – X B 147/09, BFH/NV 2010, 1081; BFH, Urteil vom 09.12.2009 – II R 52/07, BFH/NV 2010, 824 []
  3. BFH, Urteil vom 09.12.1999 – III R 37/97, BFHE 190, 292, BStBl II 2000, 175; Müller-Franken in Hübschmann/Hepp/Spitaler: AO/FGO, § 122 AO Rz. 349 [März 2016] m.w.N. []
  4. BFH, Beschluss vom 26.01.2010 – X B 147/09, BFH/NV 2010, 1081; BFH, Urteil vom 13.12.2000 – X R 96/98, BStBl II 2001, 274 []
  5. Müller-Franken in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 122 AO Rz. 345, 389 [März 2016]; Güroff in Gosch, AO/FGO, § 122 AO Rz. 38_3 [Nov. 2019]; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 122 AO Rz. 59 [Nov. 2021], jeweils m.w.N. []
  6. BFH, Urteile vom 05.12.1974 – V R 111/74, BFHE 114, 176, BStBl II 1975, 286; vom 17.06.1997 – IX R 79/95, BFH/NV 1997, 828; vom 03.05.2001 – III R 56/98, BFH/NV 2001, 1365; BFH, Beschluss vom 20.04.2011 – III B 124/10, BFH/NV 2011, 1110 []
  7. BFH, Beschluss vom 26.02.2021 – X B 108/20, BFH/NV 2021, 929 []
  8. BFH, Beschluss vom 16.05.2007 – V B 169/06, BFH/NV 2007, 1454; FG Hamburg, Urteil vom 22.03.2021 – 4 K 18/16; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 122 AO Rz. 60a [Nov. 2021 []
  9. BFH, Beschlüsse vom 30.11.2006 – XI B 13/06, BFH/NV 2007, 389; vom 18.04.2013 – X B 47/12, BFH/NV 2013, 1218; vom 05.09.2017 – IV B 82/16, BFH/NV 2017, 1620; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 122 AO Rz. 59 [Nov. 2021] []
  10. FG München, Urteil vom 10.05.2012 – 5 K 1325/11; FG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 26.03.2013 – 4 K 1440/10; BFH, Beschluss vom 25.02.2010 – IX B 149/09, BFH/NV 2010, 1115 []
  11. BFH, Urteile vom 06.09.1989 – II R 233/85, BFHE 158, 297, BStBl II 1990, 108; vom 03.05.2001 – III R 56/98, BFH/NV 2001, 1365; BFH, Beschlüsse vom 30.11.2006 – XI B 13/06, BFH/NV 2007, 389; vom 26.10.1998 – X B 117/98, BFH/NV 1999, 450 []
  12. vgl. (Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 122 AO Rz. 50 m.w.N. [Nov. 2021]; BFH, Beschluss in BFH/NV 2021, 929 []
  13. BGH, Beschlüsse vom 08.05.2007 – VI ZB 80/06, NJW 2007, 3069; vom 17.01.2012 – VIII ZB 42/11, WuM 2012, 157; vom 28.01.2020 – VI ZB 38/17, NJW 2020, 1225; Greger in Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, Vorbem. zu §§ 373-401 Rz. 6 []
  14. BFH, Beschluss in BFH/NV 2010, 1115; FG München, Urteil vom 01.07.2020 – 3 K 1239/18, EFG 2020, 1583 []
  15. BGH, Urteile vom 08.01.1976 – III ZR 148/73, WM 1976, 424; vom 14.12.2000 – IX ZR 332/99, WM 2001, 736 []
  16. BFH, Beschluss vom 07.08.1970 – VI R 24/67, BFHE 100, 71, BStBl II 1970, 814 []
  17. BFH, Urteil vom 31.05.2005 – I R 103/04, BFHE 209, 416, BStBl II 2005, 623; vgl. allgemein Metz in Metz, Steuerberater Rechtshandbuch, Werkstand: 165. Lieferung 2022, X. Fristen, Rn. 264_1 []
  18. BFH, Beschluss vom 06.07.2011 – III S 4/11 [PKH], BFH/NV 2011, 1717; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 122 AO Rz. 59 [Nov. 2021 m.w.N. []
  19. BFH, Beschluss vom 23.10.1986 – IV R 21/85, BFH/NV 1987, 412; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 122 AO Rz. 60a [Nov. 2021 m.w.N. []
  20. FG München, Urteil vom 10.05.2012 – 5 K 1325/11; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 122 AO Rz. 60a [Nov. 2021] []